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Arenadiskussion: Kinderbetreuung

Vom Seiltanz zwischen Kind und Arbeit. Das Angebot für die ausserfamiliäre Betreuung von Kindern in der Schweiz ist noch ungenügend. Insbesondere für Kleinkinder fehlen 50000 Plätze. Aber auch mit grösseren Kindern müssen Mütter bei der Organisation ihres Alltags oft jonglieren.

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In den letzten fünfzig Jahren hat sich die Familie enorm verändert. Zuvor war die Erwerbstätigkeit von Müttern eine Ausnahmeerscheinung. Heute ist sie die Regel, und Mütter, die sich auf die Hausfrauenrolle konzentrieren möchten, kämpfen um Anerkennung. Das Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann der Stadt Zürich hat im Jahr 2003 rund 23000 Mütter und Väter mit mindestens einem Kind unter 16 Jahren zu ihrem Leben befragt und die Resultate im Buch «Kunststück Familie» veröffentlicht. «Die Befragung zeigt, dass es auch heute mehrheitlich die Mütter sind, die den Spagat zwischen der Berufs- und der Familienwelt machen müssen», bringt es Dore Heim, die Leiterin des Gleichstellungsbüros, auf den Punkt. Am stärksten zum organisatorischen Jonglieren gezwungen seien allerdings alleinerziehende Mütter. «Mein Alltag ist wie eine Maschine, die läuft und läuft – solange nichts Unvorhergesehenes passiert», zitiert Heim die Übersetzerin Alessia Contin.

Wir haben vier berufstätige Frauen befragt, wie sie den Alltag mit ihren Kindern managen. Ausserdem wollten wir von zwei Politikerinnen wissen, wie sie die Kinderbetreuung in der Schweiz einschätzen. Das Resultat: Kinder zu haben, erfordert eine ausgeklügelte Organisation und viel Kraft, selbst wenn der Vater im Haushalt und bei der Kinderbetreuung aktiv mitarbeitet. Vor allem die Randzeiten stellen oft Probleme, nicht nur auf dem Land und in Agglomerationsgemeinden, auch in den Städten. Es mangelt an Tagesstrukturen, oft noch an Blockzeiten in der Schule oder an Plätzen für Kleinkinder. Allerdings ist die Forderung nach mehr ausserfamiliären Betreuungsangeboten nicht selten umstritten, wie die Diskussion um HarmoS zeigt. Doch selbst wenn die Forderung umgesetzt würde, wäre vielen Familien nicht geholfen. Denn Frauen müssten für ihre Arbeit auch gut genug bezahlt werden; die oft diskriminierenden Frauenlöhne verschärfen das Problem. Und: Fremdbetreuung ist teuer. Monika Bütler, Professorin an der Hochschule St. Gallen, hat die Kosten für Krippenplätze untersucht: «In den meisten Schweizer Städten zahlt eine Familie mit zwei kleinen Kindern jährlich rund 50000 Franken für eine vollzeitliche Betreuung oder 10000 für einen Krippentag pro Woche.» Wie Unicef festgestellt hat, sind staatliche Finanzierungsbeiträge für die ausserfamiliäre Betreuung in der Schweiz sehr niedrig. Nur zwei OECD-Staaten – Irland und Korea – leisten hier noch weniger.

«Wir haben eine wunderbare Tagesfamilie.»

Die ersten zehn Monate nach der Geburt von Sina bin ich zu Hause geblieben. Danach arbeitete ich abends in einer Wohngruppe für Menschen mit einer leichten Behinderung. Bevor ich ging, versorgte ich Sina, und der Vater brachte sie zu Bett. Nach zwei Jahren übernahm ich eine 70%-Stelle als Leiterin der Fachstelle Pflegekinder Thurgau. So arbeitete ich vier Tage pro Woche ausser Haus. Glücklicherweise fand ich in der Nähe unserer Wohnung eine wunderbare Tages-familie für Sina. Da geht sie auch heute noch hin. Bis zu ihrem 6. Lebensjahr war ihr Vater noch zu Hause, der sie in den Randzeiten betreute. Als er auszog, versuchte ich vermehrt, von zu Hause aus zu arbeiten, und die Tagesfamilie deckte manchmal auch die Randzeiten ab.

Im letzten Jahr wurde meine Stelle im Thurgau aufgelöst. Seither arbeite ich während dreier Tage pro Woche in Zürich; das bedeutet – hin und zurück – drei Stunden Arbeitsweg. Seit zwei Monaten ist meine Mutter pensioniert. Sie wohnt im Haus nebenan und sorgt nun für Sina in den Zeiten, in denen es der Tagesfamilie nicht möglich ist. Nächste Woche zum Beispiel arbeite ich in Bern und kann dank Sinas Grossmutter da übernachten und sicher sein, dass es meiner Tochter gut geht.

Ohne meine Mutter oder die Tagesfamilie könnte ich den Lebensunterhalt und die Versorgung meiner Tochter nicht gewährleisten. Es ist ein Seiltanz auf schmalem Grat; fällt jemand aus oder gar ich selbst, wird es schwierig. Mein eigener Energiehaushalt ist dabei von grosser Bedeutung. Der Vater von Sina hat kaum je Alimente bezahlt, er sagt, er habe kein Geld. Er ist Steinhandwerker und hat es bestimmt nicht immer einfach. Dennoch fährt er mehrmals pro Jahr in die Ferien und besitzt ein Auto.

Bei uns im Dorf gibt es weder einen Mittagstisch noch Blockzeiten oder eine Tagesschule. Die Tagesfamilie ist für Sina also sehr wichtig. Obwohl dort nun das fünfte Kind zur Welt kommt, darf Sina immer noch hingehen. Sie ist gut in die Familie integriert und erlebt da einen Grossfamilienhaushalt mit allen Regeln und nötigen Anpassungen. So geht es uns allen richtig gut.
Andrea Keller Sozialarbeiterin, 1 Tochter

«HarmoS verbessert die Situation bei den Tagesstrukturen ausserhalb der Unterrichtszeit.»
In den letzten Jahren wurden die familienergänzenden Betreuungsstrukturen in der Schweiz stetig ausgebaut. Auch die Blockzeiten stellen für die Organisation des Familien- und Erwerbslebens eine Erleichterung dar und werden vielerorts bereits umgesetzt. Bei den Betreuungsstrukturen insgesamt bestehen heute sicher Unterschiede zwischen dem Angebot in Städten oder Agglomerationsgemeinden und dem Angebot in ländlichen Gebieten – und das unabhängig von der Sprachregion. Eine sprachregionale Besonderheit möchte ich erwähnen: Das Modell der Scuola materna im Kanton Tessin; das ist ein Tageskindergarten für Kinder ab drei Jahren, der findet grossen Anklang.

Die Einführung von Betreuungsstrukturen und Blockzeiten hängt nicht direkt von HarmoS ab, das ist ein überall bereits laufender Prozess. Kantone, die dem HarmoS-Konkordat beitreten, verpflichten sich aber, überall dort, wo eine Nachfrage besteht, auch ein Angebot zur Verfügung zu stellen. Und: Wenn von HarmoS die Rede ist (Art. 11), dann sprechen wir von den Tagesstrukturen für Kinder, die sich im obligatorischen Schulsystem befinden. HarmoS ist eine Vereinbarung zur Harmonisierung der obligatorischen Schule. Geht es nach HarmoS, wird künftig auch der Kindergarten zu diesem obligatorischen Angebot gehören. Wir reden also von Betreuungsstrukturen für Kinder ab erfülltem vierten Jahr. Strukturen für jüngere Kinder sind nicht Teil des HarmoS-Konkordats. Das ist in den meisten Kantonen ein Dossier der Sozial- und Familienpolitik.

Die kantonalen Erziehungsdirektorinnen und Erziehungsdirektoren haben das HarmoS-Konkordat einstimmig genehmigt und im Juni 2007 in die kantonalen Beitrittsverfahren gegeben. Jeder Kanton entscheidet nun über seinen Beitritt zu diesem Konkordat.
Isabelle Chassot, Staatsrätin Kanton Freiburg und EDK-Präsidentin

«Ich bin eine super organisierte und hyperaktive Natur.»

Ich arbeite auf Mandatsbasis für die Zeitung «20 Minuten». Ausserdem gebe ich jeden Dienstagnachmittag Einwanderern auf ehrenamtlicher Basis einen Französischkurs. Ich würde sagen, dass ich wöchentlich 40 bis 60 % arbeite, wobei dies sehr unterschiedlich ist.

Ich habe zwei Kinder, einen Jungen im Alter von 16 Jahren aus erster Ehe und ein fünfjähriges Mädchen. Der Junge beendet seine obligatorische Schulzeit. Das Mädchen ist in den Kindergarten eingetreten. Ich bin vom Vater meines Sohnes geschieden und wir kümmern uns beide um seine Betreuung, indem er eine Woche beim einen und eine Woche beim anderen ist. Am Mittag ist er jedoch immer bei mir, da sich die Schule näher bei meinem Wohnsitz befindet. Der Vater meiner Tochter ist sehr beschäftigt. Er arbeitet praktisch 300 % und ist abends und an den Wochenenden oft abwesend.

Mein Sohn schlägt sich mehr oder weniger selbständig durch, doch er ist in einem Alter, in dem man sehr präsent sein muss. Meine Tochter geht jeden Morgen mit Ausnahme des Mittwochs zur Schule und drei Mittage und Nachmittage pro Woche in den Kinderhort in unserem Quartier. Wenn sie einmal krank ist, muss ich ein Theater veranstalten, um eine Lösung zu finden, da ich zu Hause arbeite. Unser Kinderhort ist übrigens sehr gut (in pädagogischer Hinsicht, Beziehungen zu den Eltern, Beschäftigungen usw.), wenn man davon absieht, dass er mindestens 8 Wochen pro Jahr geschlossen ist. Dann bin ich mit einem kleinen Mädchen und viel Arbeit zu Hause und schaukle dies alles, so gut es eben geht. Dies bedeutet jeweils Stress.

Die ganze Woche organisiere ich abhängig von der Schulzeit der Kleinsten und den Mahlzeiten meines Sohnes. Dazwischen dränge ich meinen Französischkurs und meine redaktionelle Tätigkeit. Glücklicherweise bin ich eine gut organisierte Natur!
Patricia Rodio, Journalistin, 2 Kinder

«Mein Partner und ich teilen uns die Familienarbeit.»

Ich arbeite 80 Prozent und sorge für das fixe Familieneinkommen. Mein Mann ist freischaffender Fotograf und arbeitet 60 Prozent. Mein Chef schluckte leer bei der frohen Kunde, ich sei schwanger, denn meine Vorgängerin war an ihrem ersten Arbeitstag bereits schwanger und hatte nach Ablauf des Mutterschaftsurlaubes gekündigt. Das war bei mir anders. Als Emma auf die Welt kam, hatten wir Glück: Wir fanden einen Krippenplatz in unserer Nähe. Nach 16 Wochen Mutterschafts-urlaub ging ich wieder arbeiten. Das haben wir auch bei den weiteren Kindern so gemacht. Vor vier Monaten ist das vierte Kind zur Welt gekommen.

Unsere Woche sieht in etwa so aus: Am Dienstag- und Donnerstagvormittag und den ganzen Mittwoch gehen drei Kinder in den Hort oder Kindergarten, an einem weiteren halben Tag sorgt die Grossmutter für sie. In der restlichen Zeit sind der Vater oder ich verantwortlich. Am Morgen ist um sieben Tagwacht. Emma geht selbstständig in den Kindergarten, der im Hof liegt. Moritz 4, Lily 2 Jahre und Lorenz 4 Monate bringen wir in den Waldkindergarten und in die Krippe, beide je eine Viertelstunde entfernt. Dann wetzen wir ins Büro, aber eigentlich bräuchten wir erst mal eine Kaffeepause. Um 12 Uhr kommt Emma wieder nach Hause. Um halb eins gehen sie und ich Lily und Lorenz abholen, danach gibt es Mittagessen. Während wir essen, macht Lily im Kinderwagen ihren Mittagsschlaf. Um 14 Uhr holen wir den kleinen Moritz vom Kindergarten ab.

Am Nachmittag machen wir einen Ausflug ins Gemeinschaftszentrum, wohin wir noch ein fünfjähriges Nachbarkind mitnehmen. Da gibts viel zu tun für die Kinder. All das ist sehr aufwendig und gelingt nur dank einer klugen und zuverlässigen Organisation sowie einer lieben und flexiblen Grossmutter. Wir haben aber viel Glück, auch weil wir genug verdienen, damit wir die Krippen- und Hortplätze finanzieren können. Denn die Fremdbetreuung kostet uns viel Geld. Unsere Wohnsituation in der Heuried-Siedlung kommt uns natürlich auch sehr entgegen, da hat es viele Mütter und Väter, die alle irgendwie jonglieren müssen.
Pia Wildberger, Corporate Publishing, 4 Kinder

«Kinderbetreuung am Tag, arbeiten am Abend.»

Vor zehn Jahren haben sich mein Mann und ich getrennt, da waren meine Töchter 5 und 9 Jahre alt. Ich unterrichtete an den Abenden an einer Sprachschule Italienisch, damit ich tagsüber für meine Kinder zu Hause sein konnte. Damals wohnten wir in einer kleinen Landgemeinde im Kanton Schwyz. Es gab noch keinen Mittagstisch im Dorf und schon gar keine Tageskinderbetreuung. Am Abend stellte ich das Essen auf den Tisch, und dann kam der Vater meiner Töchter und betreute sie während meiner Abwesenheit. Das klappte nicht immer gut, denn meine ältere Tochter kam mit ihrem Vater nicht gut zurecht und es gab viel Streit.

Dann lernte ich Marie kennen. Sie wohnte zu dieser Zeit um die Ecke, und auch sie war alleinerziehende Mutter zweier Töchter. Hingegen arbeitete sie tagsüber. So taten wir uns zusammen: Ich organisierte für alle vier Kinder den Mittagstisch, half auch da und dort bei den Schulaufgaben, und am Abend kochte Marie das Abendessen und betreute auch meine Kinder, sorgte für sie, wenn sie etwas brauchten. So musste mein Ex-Mann nur noch ab und zu anwesend sein, ohne Pflicht und meist freiwillig. Das war ein gutes System, ich konnte immer beruhigt aus dem Haus gehen. Und es kostete mich kein zusätzliches Geld. Das System war aber auch nicht ohne Probleme und manchmal anfällig auf Störungen. Der Deal machte Marie und mich zu Partnerinnen, und wir mussten uns hin und wieder zusammenraufen. Auch hatten die Kinder manchmal Streit untereinander, das war nicht immer einfach.

Meine Töchter wurden grösser und die Abmachung mit Marie hinfällig. Heute ist die Ältere erwachsen. Die Jüngere braucht mich derzeit stark. Doch nachdem sie tagsüber oft in der Schule ist, kann ich auch mehr arbeiten. So unterrichte ich nun mehrheitlich am Tag.
Laura Keller-Rosnati, Italienisch-Lehrerin, 2 Töchter.

«Das Angebot an Betreuungsmodellen ausserhalb der Familie ist in der Schweiz ungenügend.»
Alle Kantone der Westschweiz kennen Betreuungsstrukturen ausserhalb der Familie. Die Tatsache, sein Kind einer Krippe anzuvertrauen, wird gut aufgenommen und hat sich in der Einstellung der Leute verankert, was eher für die West-schweiz, jedoch weniger für die Deutschschweiz zuzutreffen scheint. Hier stellt eher der chronische Platzmangel ein «Hindernis» dar und bringt die Familien dazu, andere Betreuungsmöglichkeiten zu suchen. Die Kosten für einen Krippenplatz und die vorschulische Betreuung richten sich grundsätzlich nach der finanziellen Situation der Familien.

Da meine vier Kinder erwachsen sind, muss ich sie nicht mehr hüten. Als sie jedoch klein waren, arbeiteten mein Mann und ich beide je 50 % und teilten uns die Kinderzeit. Wir haben ebenfalls verschiedene Betreuungsformen ausserhalb der Familie ausprobiert, z.B. Nachbarschaftshilfe oder Krippen. Wir waren sogar an der Gründung einer von den Eltern geleiteten Krippe beteiligt.

Meine Bilanz: das Angebot an Betreuungsmöglichkeiten ausserhalb der Familie ist in der Schweiz ungenügend. So deckte es für die unter vierjährigen Kinder im Juni 2005 nur 40 % der Nachfrage. Es fehlten 50000 Plätze für 120000 Kinder. Immerhin hat das eidgenössische Impulsprogramm zur Schaffung von Betreuungsplätzen, das von der sozialdemokratischen Nationalrätin Jacqueline Fehr initiiert wurde, mehrere 10000 Plätze ermöglicht.

Meine Wünsche und Ziele: Die Schweiz braucht ein langfristiges Betreuungsangebot sowie ein angemessenes Subventionssystem. Dies ist umso wichtiger, als Kinder aus sozial minderbemittelten Schichten im Hinblick auf ihre schulische Integration speziell von einer frühen Sozialisierung profitieren.

Liliane Maury Pasquier, Ständerätin, 4 Kinder