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Jeder Entwicklungssprung ist eine Art Häutung

Zu Recht gefürchtet – oder alles halb so schlimm? Die Pubertät wird für viele Familien zu einer Prüfung, die gute Nerven erfordert. Welchen Einfluss haben Eltern darauf? Christoph Bornhauser, Mitglied Entwicklungsabteilung SBW, gibt im Interview wertvolle Tipps, wie man als Eltern lockerer durch die spezielle Zeit kommt.

Bild: Ground Picture/shutterstock.com

Türenknallen, Gefühlsausbrüche oder einfach ein anderes Verhalten: Eltern bemerken manchmal schon bei ihren acht- oder neunjährigen Kindern, wie sie sich verändern. Da drängt sich natürlich die Frage auf: Ist das schon die Pubertät?
Nein, ist es nicht. Jeder Entwicklungssprung des Menschen ist eine Art Häutung, die mit Wachstumsschmerzen verbunden ist. Das Gefühl von Verlust und Unsicherheit, welches dabei normal ist, macht die Menschen oft reizbar oder niedergeschlagen. In der Pubertät hingegen sind massive hormonelle Veränderungen und ein Umbau des Frontallappens im Hirn mitbeteiligt, was bei acht- oder neujährigen Kindern noch nicht der Fall ist.

Von Legos und Barbies wollen die Kinder scheinbar von heute auf morgen nichts mehr wissen. Kann es den Kindern schaden, wenn sie zu früh aufs Spielen verzichten? Sollte man da als Eltern vielleicht sogar eingreifen und ihnen Anreize schaffen?
Der Spieltrieb des Menschen ist bei Kindern und Jugendlichen am stärksten, weil es die effizienteste Form des Lernens ist. Dazu brauchen sie eine Umgebung, in der sie sich wohlfühlen und in die sie Vertrauen haben. Bei einem Entwicklungssprung kommen neue Stärken zum Vorschein, die in einer neuen Umgebung mit entsprechenden Reizen ausprobiert und verbessert werden. Wichtig als Eltern und Lehrpersonen ist es, diese neuen Stärken zu erkennen und eine entsprechende Umgebung zu gestalten oder zu ermöglichen. Oft können die Kinder selbst wichtige Hinweise dazu geben.

Verschiedene Studien kommen zum Schluss, dass die Kinder früher in die Pubertät kommen als noch vor einigen Jahr(zehnten). Weshalb ist das so?
Es gibt noch keine eindeutigen Forschungsresultate dazu. Verantwortlich hierfür könnten mehrere Faktoren sein. Zum einen nimmt in den Industrieländern das Körpergewicht der Kinder und Jugendlichen zu, in Deutschland beispielsweise um etwa vier Kilo pro Jahrzehnt. Der Körperfettanteil steigt dadurch an, was wiederum die Produktion von weiblichen Geschlechtshormonen fördert. Die Tatsache, dass die Kinder immer häufiger vor oder in der Pubertät übergewichtig sind, ist dementsprechend ein verantwortlicher Faktor. Des Weiteren spielen Schadstoffe in unserer Umwelt und in unserer Nahrung eine wichtige Rolle. So greifen beispielsweise bestimmte Chemikalien in die Regulation der Hormonsysteme der Tiere ein, die diese wiederum in unsere Nahrungskette einfliessen lassen.

Es wird oftmals über die Pubertät geredet. Aber wie bemerke ich als Mutter oder Vater, dass es so weit sein könnte?
Oft ist das folgende Verhalten ein Vorbote: Die Mädchen beginnen sich zu schminken und die Knaben wollen plötzlich Markenkleider plus Sonnenbrille – von jetzt an wird es teuer. Es dauert dann nicht lange, bis weitere typische Verhaltensweisen einsetzen: launisch und zickig, die Kinder können innerhalb von Minuten von heiter bis wütend wechseln, Ablehnung der Familie, extrem empfindlich auf Kritik, vermehrte Aggressivität. Sie sind oft müde und erschöpft, neigen aber auch dazu, später am Abend noch wach zu sein und am nächsten Morgen lange zu schlafen.

Nicht alle kommen gleich früh in die Pubertät, und sie spiegelt sich auch lange nicht überall gleich wider. Welche Arten von Pubertierenden gibt es?
Bezogen auf den Zeitpunkt teilt die amerikanische Jugendpsychologin Louise Bates Ames die Pubertierenden in drei Gruppen ein:

  1. Die «Early Birds»: Pubertierende, die früher als ihre Mitschüler beginnen, aber meist auch früher fertig werden.
  2. Die «Average Joes»: Pubertierende, die ungefähr gleichzeitig wie ihre Mitschüler beginnen und auch fertig werden.
  3. Die «Late Bloomers»: Pubertierende, die später als ihre Mitschüler beginnen und meist auch später fertig werden.

Am einfachsten haben es die «Average Joes», weil die Klassen in der Schule nach Jahrgängen und nicht nach Entwicklungsstand geführt werden.

Bezogen auf das Verhalten unterscheidet die polnisch-schweizerische Psychologin Alice Miller folgende drei Gruppen:

  1. «Aktiver Pubertierender»: Er erscheint übermütig, leicht reizbar und kann sich kaum konzentrieren.
  2. «Sozialer Pubertierender»: Der Kontakt zu anderen Jugendlichen ist ihm sehr wichtig. Er hat ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung und Akzeptanz.
  3. «Introvertierter Pubertierender»: Er ist eher ruhig und zurückgezogen. Er neigt dazu, sich in seiner eigenen Welt zu verlieren.

Die dritte Gruppe braucht ein besonderes Augenmerk und eine empathische Begleitung, da sie in der Schule oft übersehen werden.

Was hat es denn mit der «Wackelzahnpubertät» auf sich?
Etwa gleich viel wie mit der Midlife-Crisis. Beides sind Entwicklungssprünge, die das Gefühl von Verlust und Unsicherheit beinhalten. Es stellen sich neue Fragen: Wer bin ich jetzt, was will ich, was kann ich?

Kinder in der Wackelzahnpubertät (mit ca. 6 Jahren) brauchen viel Rückhalt. Wenn sie gerade nicht gereizt, wütend oder am Provozieren sind, suchen sie Nähe und Geborgenheit bei ihren Bezugspersonen. Klare Strukturen und Grenzen vermitteln den Kindern die nötige Sicherheit. Gleichzeitig fordern Kinder in der Wackelzahnpubertät vermehrt Selbstbestimmung. Sie möchten von den Eltern in Entscheidungen einbezogen werden und Verantwortung übernehmen. Grenzen werden in dieser Phase immer wieder aufs Neue getestet

Wir sind uns alle einig: Es ist keine einfache Zeit. Trotzdem: Wie kommen die Familien und die Eltern möglichst unbeschadet durch?

  1. Aufmerksamkeit und Verständnis zeigen
  2. Regeln und Grenzen setzen
  3. Ab und zu Kompromisse aushandeln
  4. Verständnis für die Gefühle der Kinder zeigen
  5. Zeit und Ruhe für Gespräche einplanen
  6. Vorbild im Umgang mit Familienwerten und Konflikten sein.
  7. Die Pubertät nicht zum Dauerthema machen und sich als Eltern gelegentlich bewusst davon distanzieren und absetzen.

Wie gross ist denn grundsätzlich der elterliche Einfluss auf die Pubertät? Hat ihr Verhalten Folgen, wie heftig – oder eben nicht – die Zeit sein wird?

Werte im Standby-Modus

In ein und derselben Familie können Kinder ganz unterschiedlich starke pubertäre Phasen durchlaufen, was zeigt, dass der Einfluss der Eltern begrenzt ist. Hilfreich ist eine wertvolle, gelebte Familienkultur. Leider haben die Eltern, nachdem die Pubertät eingesetzt hat, oft das Gefühl, dass ihre ganze Erziehung vergebens war, weil die Kinder die Werte und Verhaltensweisen, welche die Familienkultur früher geprägt haben, verlieren. Schlimmer noch – sie treten sie zum Teil mit Füssen. In solchen Situationen fühlt man sich als Eltern ohnmächtig und verletzt. Wichtig zu wissen ist, dass diese Werte nicht verschwunden sind, sondern nur auf die Probe gestellt werden. Eltern sollten also diese Werte weiterhin vorleben – auch in Konfliktsituationen. Es zahlt sich aus, damit Reibungsfläche zu bieten, statt immer über das Chaos im Kinderzimmer zu streiten.

Mit der Zeit sehen die Eltern, dass sich ihre Kinder auswärts durchaus «anständig» benehmen können. Die Familienwerte sind also nicht verschwunden, sondern zu Hause nur im Stand-by-Modus. Mit dem Auswachsen der Pubertät tauchen sie auf einmal auch zu Hause oder in der neuen eigenen Wohnung wieder auf und werden mit eigenen ergänzt. Es lohnt sich also, diese Familienwerte vor der Pubertät zu definieren, zu pflegen und in der Pubertät weiterhin vorzuleben.

Sie haben täglich mit allen Facetten der Pubertät bei Ihrer Arbeit zu tun. Sind die Herausforderung der speziellen Zeit über all die Jahre die gleichen geblieben? Oder haben sie sich verändert?

Die Herausforderungen in der Begleitung der Jugendlichen sind gleich geblieben. Veränderungen habe ich mehr bei den Eltern festgestellt. Viele sind nicht mehr so resilient und leiden mit ihren Kindern so stark mit, dass sie sich nicht mehr getrauen, klare Grenzen zu setzen und sich zu früh und zu oft einmischen. Sie trauen ihren Kindern weniger zu und engen den Freiraum, in dem sie Fehler und Erfahrungen machen können, ein. Diesen Experimentierraum brauchen sie aber, um mehr über sich zu erfahren. Sie entwickeln dabei das Gefühl für ihre eigenen Grenzen, um anschliessend an den Herausforderungen des Erwachsenenlebens zu wachsen.

Und zum Abschluss: Haben Sie für verzweifelte Eltern Tipps, wie sie es leichter nehmen können oder Hilfe erhalten?

Distanz bringt Nähe

Wenn ich über die Pubertät referiere, erlebe ich oft, dass die Eltern das Gefühl haben, ich spreche über ihr Kind. Dieses Erlebnis zeigt ihnen, dass das Problem ein biologisches ist und in vielen anderen Familien auch vorkommt. Der anschliessende Erfahrungsaustausch mit anderen Eltern ermöglicht es ihnen oft, in eine humorvolle Distanz zur Pubertät zu treten.

Diese Referate können im Netz abgerufen werden (siehe QR-Code). Je nach «Notsituation» kann aus fünf Episoden die entsprechende angewählt werden (ca. 20 Min).

Im Weiteren sollten die Eltern ihren eigenen Entwicklungssprung beobachten und sich Zeit dafür nehmen. Oft überlagern sich in der Familie Pubertät und Midlife. Ein schönes gemeinsames Elternwochenende ohne das «Pubertier» ist oft für beide Seiten sehr erholsam und wertvoll. Distanz bringt hier Nähe.

Was mir persönlich als Vater geholfen hat, waren meine eigenen Erfahrungen in der Pubertät und die Einstellung «s’chunt scho guet» und so kam es auch, bei der Tochter mit 19 Jahren, beim Sohn etwas später.

Zur Person

Werdegang

1982 hat Christoph Bornhauser im SBW Haus des Lernens Romanshorn seine berufliche Laufbahn als Lernbegleiter und Schulleiter begonnen. In 40 Jahren hat er in verschiedenen Leitungsfunktionen den Aufbau von neuen SBW Lernhäusern im In- und Ausland unterstützt. Er leitete die SBW Entwicklungsabteilung und setzt als erfahrener Pädagoge die Erkenntnisse der Neurobiologie ins Konzept des SBW Haus des Lernens um. Oft referiert er zu Themen aus Pädagogik, Bildung und Unternehmertum.

Ausbildung

Er hat in Zürich Biologie mit Schwerpunkt Neurobiologie und Menschenkunde studiert und mit dem Gymnasiallehrer-Diplom abgeschlossen. In der Armee war er als Offizier des Psychologischen und Pädagogischen Dienstes tätig.

Leidenschaft

Während seines Biologiestudiums hat ihn vor allem das menschliche Hirn fasziniert. Seither verfolgt er die Forschungen rund um unser kompliziertestes Organ. Insbesondere interessiert ihn, welche Auswirkungen die digitale Revolution auf die Lern- und Entwicklungsprozesse des Menschen hat.

Pubertät & Talent-Entwicklung

«Herr Bo» verbindet die Essenz seines Auftritts-Klassikers «Ihre Kinder sind ganz normal. Es ist nur die Pubertät.» mit dem Aspekt der Talent-Entwicklung. 16. Februar 2023, 19–21 Uhr

Talent-Campus Bodensee
Seestrasse 7, 8280 Kreuzlingen