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Kindererziehung: Wo fängt Gewalt an?

Die Zahlen sind schockierend: Durchschnittlich gibt es in jeder Schulklasse ein Kind, das regelmässig körperliche Gewalt in der Erziehung erlebt. Wie gelingt der Ausstieg aus der Wut? Tamara Parham, Kinderschutz Schweiz und Theresa Eberhard, Elternkursleiterin Starke Eltern – Starke Kinder®, geben Antworten.

Bild:©Sharomka/shutterstock.com

Kinder erfahren in ihrem Alltag häufiger Gewalt, als viele meinen. Was ist überhaupt die Definition dafür? Was beinhaltet die Gewalt gegenüber Kindern?

Tamara Parham: Was unter den Begriff Gewalt in der Erziehung fällt, hängt von vielen Faktoren ab. So sind Werthaltungen in Familien und Gesellschaften ebenso wie kulturelle Normen und die gesetzlichen Rahmenbedingungen eines Landes ausschlaggebend dafür, was als Gewalthandlung betrachtet wird.

Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gewalt wie folgt: «Gewalt ist der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder psychischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt.» (WHO 2003).

Beim Begriff elterlicher Gewalt gibt es besonders viele Auslegungen – so fehlt in der Schweiz aber bislang eine allgemeingültige und akzeptierte Definition für elterliche Gewalt (vgl. Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz 2020).Gewalt gegenüber Kindern kommt in unterschiedlichsten Formen vor und umfasst körperliche und psychische Gewalt, sexuelle Übergriffe sowie Vernachlässigung.

Der Alltag mit Kindern kann mehr als anstrengend sein. Wie kann verhindert werden, dass da der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt?

Tamara Parham: Ruhig zu bleiben – auch wenn es unmöglich erscheint. Je nach Alter der Kinder und der individuellen Familien- und Beziehungssituation sind es ganz unterschiedliche Dinge, die das Fass zum Überlaufen bringen. Damit es einem in diesen Momenten nicht «den Deckel lüpft» beziehungsweise einem nicht die Worte oder die Hand entgleiten, hilft es, alternative Handlungen zu verinnerlichen, die in solchen Fällen entlasten und das innere Gleichgewicht wiederherstellen können. Damit stellen Eltern oder Erziehungsberechtigte sicher, dass Gewalt in der Erziehung nicht vorkommt. Beispiele sind auf zehn zählen, sich kurz aus der belastenden Situation rausnehmen oder sich die Hände mit warmem Wasser zu waschen – denn das warme Wasser beruhigt das parasympathische Nervensystem sofort. Das kann in schwierigen Situationen helfen, sich wieder zu beruhigen und eine Eskalation zu vermeiden.

Oft übersehen Eltern in stressigen Alltagssituationen die Gefühle ihrer Kinder oder die Kinder können diese nicht richtig in Worte fassen.

In unserer aktuellen Präventionskampagne haben wir das Plüschmönsterli EMMO lanciert, mit welchem Kinder ihre Gefühle leichter und ohne Worte zum Ausdruck bringen können. EMMO hilft den Kindern zu zeigen, wie es ihnen geht und den Eltern, emotionale Situationen zu erkennen, bevor diese eskalieren. Sind Eltern zu stark mit den eigenen Gefühlen beschäftigt, vermittelt EMMO, bevor die Gewalthandlung passiert. EMMO sorgt für eine gute Beziehung der Eltern zum Kind und diese ihrerseits verhindert Gewalt.

Und was, wenn es trotzdem kracht?

Tamara Parham: Ist der Wutausbruch vorüber, sollten die Eltern sich beim Kind entschuldigen. Dem Kind in einfachen Worten erklären, weshalb die Reaktion so heftig ausgefallen ist. Wichtig dabei ist, ehrlich zu sein. Eltern dürfen jedoch nicht von ihrem Kind erwarten, dass es sie von ihren Schuldgefühlen entlastet. Wiederholt sich der Vorfall, unbedingt mit jemandem darüber reden und sich sofort Hilfe holen.

Sie bieten Elternbildung, Beratung und Seminare rund um das Thema Erziehung an. Wo drückt der Schuh bei den Familien oder Eltern am meisten? Womit werden Sie besonders häufig kontaktiert?

Theresa Eberhard: Viele Eltern beschreiben mir konflikthafte Situationen aus ihrem Familienalltag, in denen sie an ihre Grenzen in der Erziehung kommen. Am meisten sind dies Streitigkeiten unter Geschwistern, der Umgang mit Wutausbrüchen oder aber auch die Überschreitung von Regeln.

Wie sehen die Lösungsansätze aus, welche Sie mit den Eltern erarbeiten? Oder anders gefragt: Für welche Eltern eignen sich solche Seminare und Beratungen?

Theresa Eberhard: Die Angebote richten sich an jene Eltern, die ihre Beziehung zu ihren Kindern und die Kommunikation in ihrer Familie verbessern möchten. An Eltern, die wieder mehr Freude und Leichtigkeit in ihrem Alltag erleben möchten und auf der Suche nach neuen Impulsen und Handlungsmöglichkeiten sind.

In der Theorie liest sich Erziehung einfach, die Praxis sieht aber häufig anders aus. Wie schaffen es Eltern im Alltag, die Nerven zu behalten? Viele werden ja laut und schreien, obwohl sie das gar nicht wollen.

Theresa Eberhard: Ich mache oft die Erfahrung, dass Eltern heutzutage mehrfachen Belastungen auf verschiedensten Ebenen ausgesetzt sind. Die Gesellschaft hat hohe Erwartungen an die Eltern, was die Erziehung der Kinder betrifft. Vielfach haben die Eltern diese hohen Erwartungen auch an sich selbst. Sie wollen alles richtig machen. Dazu kursieren viele verschiedene Erziehungsvorstellungen, was es den Eltern schwierig macht, sich zu orientieren und für sich herauszufinden, was für sie stimmt. Auch achten sie immer weniger auf ihre eigenen Bedürfnisse und nehmen sich oft zu wenig oder auch keine Zeit für sich selbst. Sie stecken immer mehr zurück und sind in ihren unterschiedlichsten Rollen nicht in der Balance. Dies führt dazu, dass Eltern weniger Geduld und Nerven aufbringen, um in herausfordernden Situationen mit ihren Kindern die Ruhe zu bewahren und zu erkennen, was hinter einem Verhalten eines Kindes steckt und was seine Bedürfnisse im Moment sind. Innerhalb meiner Beratungen und Kurse stellen Eltern häufig fest, dass das Verhalten des Kindes lediglich der «Tropfen auf den heissen Stein» gewesen ist, der ihre eigenen Gefühle zum Explodieren gebracht hat.

Mäkelige Esser, vergessliche SchlülerInnen oder aufbrausende Persönlichkeiten: Die Stolpersteine lauern an vielen Orten. Wie schaffen es die Eltern, die ihren Kindern in solchen Fällen mit Gewalt drohen oder gar ausüben, einen anderen Weg zu wählen?

Theresa Eberhard: Der Wunsch nach Veränderung und die Teilnahme an einem Elternkurs ist der erste Schritt. Im Elternkurs setzten wir uns intensiv mit der eigenen Erziehung der Eltern auseinander. Welche Werte haben sie mitbekommen und welche möchten sie ihren Kindern weitergeben. Durch diese Selbstreflektion, in der wir die Eltern begleiten, lernen sie sich und ihre Vorstellungen vom Familienleben näher kennen. Sie lernen, was in Konfliktsituationen helfen kann und legen für den Notfall ihre persönlichen Notausstiege fest. Diese können sie dann konkret anwenden, bevor ihr Geduldsfaden reisst. Sollten sie es einmal nicht schaffen, ist es wichtig, zu seinen Fehlern zu stehen und dies auch gegenüber seinen Kindern zu kommunizieren und sich zu entschuldigen.

Weitere Infos unter

www.kinderschutz.ch/eltern-und-erziehungsberechtigte

Alle Handlungsalternativen finden Sie hier:
www.kinderschutz.ch/eltern-und-erziehungsberechtigte/handlungsalternativen-gewalt

EMMO kann hier vorbestellt werden:
www.kinderschutz.ch/emmo