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Die Sicherheits-Gesellschaft

Wir wollen uns sicher fühlen. Jeden Tag, in jeder Lebenslage. Nur um dann zu lernen, dass sich Sicherheit nicht kaufen lässt. Jedenfalls nicht die, die wir suchen. Ein Plädoyer für das gezielte Zulassen von tiefster Unsicherheit.

Bild: © Romolo Tavani/Shutterstock.com

Es beginnt sehr früh. Eigentlich schon dann, wenn wir uns entscheiden, Kinder zu haben. Wir wissen, dass das unser Leben auf den Kopf stellen wird, aber das wars auch schon. Alles andere ist eine Fahrt ins Ungewisse. Mädchen oder Junge? Wild oder ruhig? Wissbegierig oder teilnahmslos? Einfach oder schwierig? Wir haben keine Ahnung, was auf uns zukommt, und wenn wir die Illusion haben, das steuern zu können, wird sie uns bald genommen. Eine Autorin hat einst gesagt: «Ein Kind ist wie eine Handgranate, die in eine Beziehung geworfen wird.» Wahre Worte.

Sicherheit für bestimmte Fälle

Natürlich können wir uns für oder gegen so manchen Fall buchstäblich versichern. Darüber schreiben wir in dieser Ausgabe mehr. Und wir sollten es sogar tun. Aber niemand sollte ernsthaft glauben, damit würden Unsicherheiten aus der Welt geschafft. Ein bestimmter Frankenbetrag pro Monat für eine bestimmte Police: Das schafft Sicherheit für den Fall, dass ganz bestimmte Situationen eintreten. Das kann natürlich nicht schaden. Aber es hat reichlich wenig mit Sicherheit im Alltag zu tun.

Jeden Morgen, wenn wir zuschauen, wie unser Kind zu Fuss, mit dem Kickboard oder auf dem Velo Richtung Schule fährt, ist die Unsicherheit da, die sich mit keiner Versicherung der Welt ausräumen lässt. Wir gehen davon aus, dass alles gut geht. Das hat die Natur so eingerichtet, weil wir sonst wahnsinnig würden. Aber auch das würden viele Eltern am liebsten absichern, indem sie den Nachwuchs selbst zur Schule fahren. Da stehen dann Autos an Autos vor dem Schulhof und bilden selbst die grösste Gefahr für die Heerscharen von Kindern, die in diesen Bereich strömen. Aber das blenden wir aus, weil es nur um eines geht: Das eigene Kind.

Immer die totale Kontrolle

Helikoptereltern lautet der Begriff für dieses Phänomen, das noch nicht sehr alt, aber bereits sehr prägend ist. Eltern, die zu jedem Zeitpunkt wissen wollen, wo ihr Kind ist und was es tut, weil sie nur dann beruhigt sein können. Zwei Dinge vergessen sie dabei. Erstens: Ganz egal, wie präsent man im Leben des Kindes ist, die totale Kontrolle ist nicht möglich. Und diese ist, Punkt 2, auch alles andere als sinnvoll. Es kommt unweigerlich der Moment, an dem das nicht mehr geht. Wir erziehen Kinder ja nicht zum ewigen Kinderdasein, sondern sollten sie vorbereiten auf das, was kommt: Das eigenständige Leben. Reichlich schwer, wenn man ihnen jahrelang vorgaukelt, es gehe nichts ohne ständige Begleitung.

Es stellt sich auch die Frage: Tun wir das eigentlich wirklich für die Kinder? Oder vielleicht doch für uns selbst? Loslassen ist die schwierigste Aufgabe für Eltern. Sich einzugestehen, dass wir Zug um Zug weniger gebraucht werden, nachdem die Kleinen doch eben erst noch auf dem Wickeltisch lagen. Aber wenn es um die Befähigung zum Leben geht, führt kein Weg daran vorbei, sich selbst mehr und mehr überflüssig zu machen. Wenn uns etwas an unseren Kindern liegt, müssen wir ihnen vor allem eines zeigen: Immer mehr geht ohne uns. Weil es das früher oder später auch muss.

Erfahrungen beschneiden

Wie jede Statistik zeigt, fällt das immer mehr Eltern schwer. Früher ging das ganz von selbst. «Aus den Augen, aus dem Sinn», lautete die Philosophie, wenn sich die Kinder allein in den Wald aufmachten, um die Welt zu erfahren. Für viele wäre das heute undenkbar. Die lückenlose Kontrolle ist inzwischen möglich, und was möglich ist, wird auch gemacht. Das reicht bis zum GPS-Sender, der Eltern permanent über den Aufenthaltsort des Nachwuchses informiert – und Eingreifen ermöglicht. Dass wir damit die für das Heranwachsen so wichtige Freiheit, Erfahrungen zu machen, beschneiden, scheint weniger schwer zu wiegen. Und Jahre später staunen, wieso das Kind, das doch so wohlbehütet aufgewachsen ist, nicht fähig ist, selbst Entscheidungen zu fällen. Dabei ist es doch ganz einfach: Wie sollte es auch, nachdem wir es jahrelang überbeaufsichtigt haben?

Das alles hat natürlich nicht direkt mit dem Schwerpunkt dieser Ausgabe zu tun, der Frage der Versicherungen. Aber ein innerer Zusammenhang besteht doch. Es gibt Fälle, für die muss man sich absichern, um bei Eintreten eines Ereignisses Sicherheit zu schaffen – vor allem finanzielle. Das gehört zum Katalog der Verantwortlichkeiten von Eltern. Das so entstehende Sicherheitsgefühl ist aber eine andere Kategorie als der Versuch, sich im Alltag sicher zu fühlen. Der Versuch, jede Gefahr zu bannen und das eigene Kind vor allem zu schützen, ist zum Scheitern verurteilt. Freiheit zuzulassen und zugleich mit Augenmass für Sicherheit zu sorgen: Das ist eine Gratwanderung. Und eine Aufgabe, bei der auch die «Grossen» vieles neu lernen müssen.