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Asperger als Invalidität?

Die Prägung eines neuen versicherungsmedizinischen Begriffs

Sie sind jung,
sie sind stark,
sie sind teils hochbegabt,
teils begabte Sportler,
doch sie sind auf IV Hilfe angewiesen.

Was stimmt hier nicht?
Bei den oben skizzierten Menschen handelt es sich um eine homogene Gruppe von begabten Aspergern in ihrer Erstausbildung zu Informatikern im Rahmen einer IV-Massnahme.

73 Jahre nach der Syndrom-Beschreibung von Hans Asperger (1944), fast 30 Jahre nach Rain Man (1988), gehört das klinische Bild des Aspergersyndroms immer noch auch für Ärzte nicht zu den geläufigen Diagnosen. Besonders die Verbindung von Hochbegabung und Invalidität (Steven Hawking ausgenommen) entspricht auch für Fachpersonen einem neuen Konzept.

„Asperger-Betroffene sind keine Invaliden, sie bekommen Hilfe im Sinne eines Nachteilausgleichs, damit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt bestehen können“, heisst es allgemein hin.

Der Weg einer stufenweisen Eingliederung ausgehend von einem Asperger freundlichen Ausbildungsbetrieb zur Einbindung auf dem ersten Arbeitsmarkt ist durch diese Ausbildung theoretisch geebnet. Praktisch tun sich die Betroffenen damit jedoch schwer.
Diese Schwierigkeiten sollen hier thematisiert werden.

Zunächst überprüft die IV die Voraussetzungen für eine erstmalige berufliche Ausbildung wie die bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen, die zumutbaren Mindestpräsenzzeiten bei der Ausbildung, die Möglichkeit des Besuchs der öffentlichen Schulen, das Vorhanden-Sein und die Notwendigkeit der Unterstützung bei der Etablierung einer geregelten Tagestruktur, die allgemeine Erwerbsfähigkeit, die Notwendigkeit medizinischer Massnahmen etc., um den Betroffenen die bestmögliche Unterstützung anbieten zu können. Hierbei werden auch Fachärzte und Betreuer zu Rate gezogen, die aus medizinischer Sicht die Situation der Asperger beurteilen helfen.
Dieser Ansatz erscheint zunächst vielversprechend, die Realität ist jedoch als kritisch anzusehen: die Betroffenen sind trotz Unterstützung mit vielerlei Schwierigkeiten konfrontiert, oft überfordert und brechen häufig ihre Ausbildungen ab, bevor sie überhaupt auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen vermögen.

Es bestehen berechtigte Sorgen in Bezug auf die berufliche Zukunft von Asperger-Betroffenen, da sie den Herausforderungen des ersten Arbeitsmarkts nicht gerecht zu werden vermögen aus den unterschiedlichsten Gründen.

Überfordert sind junge Asperger zum Beispiel schon mit dem Zurücklegen des Arbeitswegs, mit ihrer abweichenden Art der Wahrnehmung (oder wie man heute sagt mit Hypersensibilität bzw. Hyposensibilität) ihrer Umgebung, mit dem Umgang mit Langweile bei Unterforderung (Hochbegabung) und/oder Überforderung zum Beispiel durch Schwierigkeiten beim Lernen (Störungen der exekutiven Funktionen). Sie zeigen aber vor allem Schwierigkeiten im Umgang mit allem, was neu und abweichend ist.
Zum Auffangen der Diskrepanzen zwischen dem unterstützenden Lehrbetrieb und einer fordernden Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt ist eine Übergangsphase vor dem eigentlichen Lehrabschluss vorgesehen. Die Ergebnisse sind aber bisher nicht sehr vielversprechend.

Junge Asperger erfüllen die Items des Mini-ICF-APP (Instrument zur Fremdbeurteilung von Aktivitäts- und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen), das in der Praxis zur Begutachtung von Arbeitskräften angewendet wird, nur zum Teil, da die ICF-Kriterien zu soziallastig sind.

Die gesetzlich vorgegebenen Zeiten jeglicher Ausbildung sind für Asperger zu eng gesetzt, kurz gesagt: Sie brauchen mehr Zeit.

All diesen jungen Asperger-Betroffenen ist gemein, dass sie generell Mühe mit Übergängen haben. Die sozio-emotionale Unreife (die bei Aspergern um Jahre in Verzug ist) steht ihnen hierbei im Weg. Einen jungen Asperger auf dem ersten Arbeitsmarkt am Ende der Lehre eingliedern zu wollen, erscheint häufig so, als würde man einem 12-Jährigen den Führerschein geben, nur weil er die Fahrprüfungen erfolgreich absolviert hat (dies gelänge vermutlich überraschend vielen 12-Jährigen). Dies macht ihn jedoch nicht automatisch reif genug für die Übernahme der Verantwortung im Strassenverkehr.

Für die Inklusion der Asperger auf dem ersten Arbeitsmarkt benötigt es noch dringend weit über die Lehrzeit hinaus Unterstützung. Die Angebote der IV diesbezüglich fehlen nicht: Das Programm FIT im Arbeitsmarkt, Mehraufwandsleistungen an den Arbeitsgeber, Job-Coaching, Frühinterventionen etc. können hier eingesetzt werden. Trotz alle dem zeigt sich, dass Asperger einfach mehr Zeit brauchen, Zeit um Eigenmotivation aufzubauen und selber vom Status des Lehrlings zum Status des Arbeiters übergehen zu können. Ein analoger Prozess vollzieht sich bei ihnen auch im Privatbereich, wo sie meist später als Gleichaltrige ihre Selbstpflege (Körperhygiene, Kleidung, Haarschnitt etc.) übernehmen, einen Partner finden usw. Die Tatsache, dass sie jünger aussehen, erscheint hier ein fast beneidenswertes somatisches Korrelat des Syndroms zu sein.

Unbestritten ist, dass es Zwischenlösungen braucht. Die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zu forcieren, stellt eine unzumutbare Überforderung für einige Betroffenen dar und kann gesellschaftlich teuer werden.

Doch wie weit sollten Asperger von der Allgemeinheit getragen werden?

Viele Asperger fragen nach privilegierten Arbeitsbedingungen mit Zielvertrag statt Präsenzzeiten, Home-Office statt verpflichtenden Meetings. Viele dieser Konzepte finden sich schon heute, jedoch nicht so weit verbreitet, wie sie benötigt würden und bei weitem nicht für alle Arbeitnehmer verfügbar.

Die Erfahrung zeigt, dass erwachsene Asperger mit abgeschlossener Ausbildung eher Opfer der Wirtschaftskrise werden, statt einen ihren Bedürfnissen entsprechenden, aber schwer zu findenden Nischenarbeitsplatz ergattern zu können.
Andere Betroffene fragen nach einer Auszeit, nach einer Pause zwischen der anstrengenden Ausbildung und dem Einstieg ins Arbeitsleben. Dieses Konzept ist Autismus-Experten bekannt.

Mit welchem Modell der öffentlichen Unterstützung soll die Allgemeinheit sich nun anfreunden:
• Gewährung einer lebenslangen Unterstützung im Sinne der Schöpfung einer neuen Invalidenkategorie?
Oder
• Verwehrung einer Unterstützung da keine entsprechende Invalidität existiert? Wie z.B: Diabetes oder Hypertension.

Beide Ansätze stellen keine zufriedenstellende Lösung dar. So bleiben weiterhin die Sorgen und Unsicherheiten bezüglich der beruflichen Zukunft der Asperger-Betroffenen bestehen. Es findet sich lediglich Hoffnung in einem regen Austauschs zwischen den involvierten Stellen, Therapeuten und Betreuern, denn:

Die Klienten der Referentin kommen alle ungerne zur Sitzung, beziehungsweise, sie sehen den Sinn der Massnahme nicht. Der Leser kann sich vorstellen, was das für den Erfolg jeglicher Therapie bzw. Massnahme bedeutet. Es hat sich bewährt, zu Beginn jeglicher Unterstützung einen Vertrag zu machen, der da lautet: Erscheinst du einmal nicht, bekommt das Helfernetz eine Rundmail.
Die Koordination des Helfernetzes (Familien, Ausbilder, IV, Facharzt, Job-Coach etc.) hat sich als die bedeutsame Intervention bewährt. Die enge Zusammenarbeit des Helfernetzes erlaubt, dass schnell reagiert werden kann und Lösungen rasch und zielgerichtet gefunden werden können.

Übergänge sind für alle schwierig. Für Einige sind sie noch schwieriger.

Dr. med. Alessia Schinardi
FMH Psychiatrie & Psychotherapie
FMH Kinder- und Jugendpsychiatrie
Haus Regus
Seefeldstrasse 69
CH-8008 Zürich
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Empfang: 043 488 49 77
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