Ein Mädchen sitzt vor dem Spiegel und betrachtet sich kritisch. Neben ihr liegt eine Barbiepuppe mit glänzendem Haar und makelloser Haut. In ihrer kleinen Welt steht diese Puppe für Perfektion – ein unerreichbares Ideal, das oft tiefe Spuren hinterlässt. Viele Mädchen wachsen mit ähnlichen Bildern auf, sei es durch Spielzeug, Werbung oder soziale Medien.
Zwischen Perfektion und Selbstzweifel: Die stille Krise unserer Mädchen
Unsere Gesellschaft lebt von Geschichten. Sie inspirieren uns, formen unsere Träume und geben uns Mut, Neues zu wagen. Doch was, wenn die Geschichten, die Mädchen erreichen, immer nur ein Ideal zeigen – ein Ideal, das so unerreichbar ist wie die makellose Barbiepuppe mit ihren langen Beinen und ihrer perfekten Figur? Doch sind diese Bilder nicht die einzigen Herausforderungen, denen sich Mädchen und junge Frauen stellen müssen.
Die Lebenswelt von Jugendlichen ist komplexer geworden, sagt Markus Meury, Mediensprecher von Sucht Schweiz. «Jugendliche werden übers Handy ständig mit Informationen bombardiert.» Diese ständige Erreichbarkeit verstärkt das Gefühl von Überforderung und sozialem Druck. Besonders Mädchen sind oft gezwungen, in mehreren Rollen gleichzeitig zu brillieren: als gute Schülerinnen, soziale Vermittlerinnen und perfekte Vorbilder in sozialen Medien.
Studien wie die Schweizer Gesundheitsbefragung 2022 zeigen, dass ein Drittel der jungen Frauen Anzeichen von Depressionen, Angststörungen oder ADHS aufweisen. Auch die HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children) belegt eine signifikante Verschlechterung der psychischen Gesundheit bei Mädchen im Alter von 11 bis 15 Jahren im Vergleich zu ihren männlichen Altersgenossen.
Carmen Büche vom Mädchentreff Mädona in Basel fasst die Situation eindrücklich zusammen: «Es ist Feuer im Dach. Wir beobachten seit mindestens zwei Jahren, dass unsere Mädchen immer mehr zu kämpfen haben mit ihrer Psyche. Sie empfinden mehr Druck, mehr Stress.»
Emotionale Bildung
In einer Welt, die immer komplexer und fordernder wird, sind emotionale Bildung und Resilienz keine Luxusgüter, sondern essenzielle Fähigkeiten. Mädchen stehen heute vor einer Vielzahl von Herausforderungen – vom Leistungsdruck in der Schule über Schönheitsideale bis hin zu sozialem Vergleich in den Medien. Ohne eine solide Grundlage in emotionaler Bildung können diese Herausforderungen überwältigend sein. Doch wie können wir Mädchen helfen, mit ihren Gefühlen umzugehen, Stress zu bewältigen und innerlich stark zu bleiben?
Mehr als das Benennen von Gefühlen
Emotionale Bildung umfasst mehr als das blosse Erkennen und Benennen von Gefühlen. Sie befähigt Mädchen, ihre Emotionen zu verstehen, sie auszudrücken und auf eine gesunde Weise mit ihnen umzugehen. Sie stärkt die Fähigkeit, schwierige Situationen zu meistern, Rückschläge als Lernchancen zu begreifen und im Leben widerstandsfähig zu bleiben. Gerade in einer Zeit, in der Angstzustände und Depressionen bei Mädchen zunehmen, ist emotionale Bildung ein Schlüssel, um ihnen die Werkzeuge an die Hand zu geben, die sie benötigen, um psychisch gesund zu bleiben.
Ein gemeinsamer Weg zu innerer Stärke
Die Förderung emotionaler Bildung ist kein Projekt für Einzelne – sie erfordert die Zusammenarbeit von Familien, Schulen, Organisationen und der gesamten Gesellschaft. Wenn wir Mädchen die Fähigkeit geben, mit Emotionen und Stress umzugehen, legen wir den Grundstein für eine starke, resiliente Generation. Eine Generation, die den Mut hat, sich selbst zu sein, Herausforderungen zu bewältigen und in einer komplexen Welt ihren Platz zu finden.
Kritischer Umgang mit Medien
Die Fähigkeit, Emotionen zu erkennen und mit ihnen umzugehen, ist ein entscheidender Baustein für die innere Stärke von Mädchen. Emotionen sind oft eng mit dem verknüpft, was wir in unserer Umgebung wahrnehmen – insbesondere durch die Medien. Medien prägen nicht nur, wie Mädchen sich selbst sehen, sondern auch, welche Gefühle sie in Bezug auf sich und ihre Welt entwickeln. Daher reicht es nicht aus, sich allein auf emotionale Bildung zu konzentrieren. Mädchen müssen auch lernen, die Botschaften, die sie über soziale Medien, Filme und Werbung erreichen, kritisch zu hinterfragen. Ohne kritische Reflexion nehmen viele Jugendliche die gezeigten Inhalte für bare Münze – ob es sich um die scheinbar makellose Haut einer Influencerin, den «perfekten» Körper oder die idealisierte Darstellung eines Lebens handelt, das sie sich so niemals leisten könnten.
Der kritische Umgang mit Medien ist daher essenziell, um Mädchen dabei zu unterstützen, zwischen Realität und Inszenierung zu unterscheiden. Mädchen, die Medien kritisch hinterfragen können, sind weniger anfällig für Selbstzweifel, den Vergleich mit anderen oder die unbewusste Übernahme von Schönheitsidealen. Medienkompetenz ist ein Schutzschild, der ihnen hilft, mit den Herausforderungen der digitalen Welt souverän umzugehen.
Ein gemeinsamer Auftrag
Der kritische Umgang mit Medien ist kein Thema, das Mädchen allein lösen können. Es braucht ein unterstützendes Netzwerk aus Eltern, Lehrpersonen, Medien-macher:innen und politischen Entscheidungsträger:in-nen, das gemeinsam daran arbeitet, Mädchen stark zu machen. Mädchen sollten befähigt werden, die digitale Welt selbstbewusst und reflektiert zu nutzen – nicht als Massstab für ihren Wert, sondern als Werkzeug, um ihre Interessen und Träume zu verwirklichen.
Indem wir Mädchen zeigen, dass Social Media nicht die Realität widerspiegelt und dass sie selbst entscheiden dürfen, welchen Inhalten sie Raum geben, legen wir den Grundstein für eine Generation, die sich nicht länger von digitalen Schönheitsidealen oder Stereotypen einschränken lässt. Stattdessen geben wir ihnen die Werkzeuge, um ihre eigene Stimme zu finden und in der digitalen Welt selbstbewusst zu agieren.
Frühe Sexualisierung
Der kritische Umgang mit Medien hilft Mädchen, die idealisierten Darstellungen in sozialen Netzwerken und Filmen zu hinterfragen. Doch diese Medien vermitteln nicht nur Schönheitsideale – sie sind auch ein starker Treiber für die frühe Sexualisierung von Mädchen. Plattformen wie Instagram und TikTok fördern durch Filter, Tanztrends und Werbekampagnen ein Bild von Mädchen, das Attraktivität in den Mittelpunkt stellt. Diese Botschaften sind oft subtil, aber ihre Auswirkungen auf das Selbstbild und die psychische Gesundheit sind enorm.
Diese Sexualisierung wirkt sich negativ auf das Selbstwertgefühl, die Körperwahrnehmung und die psychische Gesundheit aus. Sie führt dazu, dass Mädchen ihre Fähigkeiten und Interessen oft weniger wichtig nehmen und stattdessen versuchen, äusserlichen Erwartungen zu entsprechen. Die psychische Belastung wird dadurch zusätzlich verstärkt.
Eine Welt ohne Vielfalt engt Träume ein
Wenn Mädchen in einer Welt aufwachsen, die ihnen nur eine begrenzte Vorstellung davon gibt, was sie sein können, berauben wir sie ihrer Möglichkeiten. Perfektion ist ein Mythos – eine Illusion, die von Medien und Gesellschaft geschaffen wird, um uns glauben zu lassen, dass unser Wert an äusseren Massstäben gemessen wird. Doch was Mädchen wirklich brauchen, ist keine Perfektion, sondern Authentizität, Vielfalt und die Erlaubnis, Fehler zu machen, zu wachsen und ihren eigenen Weg zu finden.
Förderung von Vielfalt und Selbstakzeptanz
Stellen wir uns eine Welt vor, in der Mädchen jede Nacht mit den Geschichten von Frauen einschlafen können, die anders sind, aber genauso inspirierend. Frauen, die sich den Herausforderungen des Lebens stellen, die scheitern und wieder aufstehen, die mutig genug sind, ihre Träume zu verfolgen – sei es in der Wissenschaft, Kunst, Politik oder im alltäglichen Leben. Solche Geschichten sind nicht nur schön, sie sind notwendig. Sie zeigen Mädchen, dass es nicht einen einzigen richtigen Weg gibt, sondern dass sie ihren eigenen finden können.
Die Verantwortung von uns allen
Es ist nicht allein die Aufgabe der Medien, dieses Bild zu verändern. Eltern, Lehrpersonen, Unternehmen, politische Entscheidungsträger – jede:r Einzelne trägt dazu bei, wie Mädchen ihre Rolle in der Welt wahrnehmen. Wenn wir Mädchen immer wieder auf ihr Aussehen oder ihre «angepassten» Verhaltensweisen reduzieren, vermitteln wir ihnen unbewusst, dass ihre anderen Eigenschaften weniger wichtig sind. Die Konsequenzen davon? Mädchen, die ihre Träume aufgeben, weil sie denken, dass sie nicht in die vorgegebenen Schablonen passen. Junge Frauen, die sich nicht trauen, für sich einzustehen, weil sie glauben, nicht genug zu sein.
Neue Geschichten erzählen
Die Geschichten, die wir erzählen, formen die Welt, in der wir leben. Wenn Mädchen Heldinnen sehen, die nicht perfekt sind, sondern menschlich, wird ihnen klar, dass sie ebenfalls unperfekt sein dürfen – und trotzdem alles erreichen können.
Doch diese Geschichten dürfen nicht nur als Randnotiz existieren. Sie müssen Teil des Mainstreams werden. Mädchen sollten nicht nach Vorbildern suchen müssen – sie sollten in jeder Geschichte, in jedem Medium, in jedem Kontext präsent sein. Nur so können sie lernen, dass ihre Träume keine Ausnahme, sondern die Regel sein dürfen.
Die Macht der Gesellschaft: Mädchen stärken
Wenn Mädchen mit dem Gefühl aufwachsen, dass ihre Stärken, Fähigkeiten und Träume unabhängig von äusseren Erwartungen zählen, entsteht eine Generation, die sich selbst vertraut. Sie lernen, dass sie nicht leise sein müssen, um akzeptiert zu werden, dass sie nicht perfekt sein müssen, um geliebt zu werden, und dass sie mutig und unerschrocken ihren eigenen Weg gehen können.
Unsere Aufgabe ist es, Mädchen zu ermutigen, die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Es ist unsere Aufgabe, ihnen den Rücken zu stärken, wenn sie gegen Normen kämpfen, und ihnen zuzuhören, wenn sie ihre Ideen und Visionen teilen. Wenn wir ihnen die Freiheit geben, authentisch zu sein, schaffen wir eine Gesellschaft, die nicht nur toleriert, sondern feiert, wie vielfältig und einzigartig jeder Mensch ist.
Eine neue Normalität schaffen
Die Veränderung beginnt bei uns allen. Jede Geschichte, jede Darstellung, jedes Gespräch hat das Potenzial, den Blick auf Mädchen und Frauen zu erweitern. Eine Gesellschaft, die Vielfalt nicht nur akzeptiert, sondern aktiv fördert, gibt Mädchen die Chance, ihre Identität frei zu gestalten.
Zurück zu dem kleinen Mädchen mit der Barbiepuppe.
Das Mädchen sitzt immer noch vor dem Spiegel. Diesmal ist etwas anders. Die Barbiepuppe liegt zwar noch neben ihr, doch ihr Blick verweilt nicht auf der makellosen Haut oder den perfekten Proportionen der Puppe. Stattdessen sieht sie sich selbst an – ihre Augen, ihre Sommersprossen, das Lächeln, das nur ihr eigenes sein kann. Sie beginnt zu verstehen, dass sie mehr ist als das, was sie im Spiegel sieht. Sie ist voller Möglichkeiten, voller Träume, voller Geschichten, die darauf warten, geschrieben zu werden. ++
Jasmin Navarro Bühler
… ist Sozialpädagogin, Familienbegleiterin, Kinderbuchautorin und Mutter. Die Schweizerin bietet Kurse und Workshops für Kinder, Jugendliche, Eltern und Pädagog:innen an. Ihre Schwerpunkte liegen in der Förderung positiver Körperbilder, der Unterstützung bei körperbasiertem Mobbing und der Beratung zu intuitivem Essverhalten. Mit ihrer Arbeit setzt sie sich für gelebte Vielfalt, Gesundheit und soziale Gerechtigkeit ein und bietet individuelle Unterstützung für Eltern und Pädagog:innen.
Mehr Infos: zurueck-zur-intuition.com
«Spieglein, Spieglein, wie fühl ich mich?»
Ein Mitmachbuch mit Übungen, Audio- und Kopiervorlagen, die das Körperbild Ihres Kindes stärken. Autorin: Jasmin Navarro Bühler
ISBN: 9783347695962