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Updateissimus – Obsoleszente Kindheit?

In seiner aktuellen Kolumne blickt der Heilpädagoge Gerhard Spitzer, gewohnt schonungslos, hinter die Kulissen des modernen Konsumverhaltens.

Bild: © Ruslan Huzau/Shutterstock.com

Konsolen-Update

Der neunjährige Marcel aus Zürich ist heute, zehn Tage vor Weihnachten, mal wieder ungnädig. Grade stampft er mit dem Fuss auf, dass es nur so dröhnt. Mama Frida erfährt gleich darauf den wahrlich signifikanten Grund für den Ausbruch: «Mit dem uralten Teil will ich nicht mehr spielen! Der Benni und die Jutta haben doch auch schon die Sohnie Plä Stäschn Vier! Alle haben die schon, ausser ich!» Mal ganz abgesehen von dem kleinen sprachlichen ausser-ich/mir-Ausrutscher ist somit alles klar: Marcel ist ein klassischer Updateissimus. Ihn verlangt es nach neuestem Technikschrott. Schon wieder!

Ein kurzer, aber bitterböser Seitenblick auf die völlig unschuldige aber keinesfalls ungefährliche Elektronik-Konsole unter dem Fernsehgerät bestätigt die massive Verachtung des Kindes für diesen unerhörten Altbestand im Haus.

Markt-Update

Na klar! Recht hat er, der kleine «Erneuerer»! Hinfort mit dem Ding! Auf Nachfrage erfahre ich, dass die «unaktuelle Play-Stäschn» immerhin schon seit fast elf Monaten in diesem Heim im täglichen Volleinsatz ist. Da wird Marcels aggressive Feindschaft gegenüber dem armen Gerät sofort durchsichtig.

Sehr nachlässig von Mama Frida, dass sie nicht sofort bei Sonys Markteinführung, drei Wochen zuvor auf Update geschaltet hat! Da wäre noch Luft nach oben, meine Gute!

Jetzt aber interessiert mich, notorischer Heilpädagoge, der ich nun mal bin, vielmehr der Hintergrund: Woher hat der Bub diese extremistisch angehauchte Neuigkeiten-Sucht?

Skrien-Update

Nun, lange brauche ich nicht zu suchen: Papa Ulrich schaut schon während unserer Besprechung verstohlen auf den Tatsch-Skrien eines offensichtlich nagelneuen Smart-Dingsbums, das die ungefähre Grösse eines Albatrosses hat. Auf frischer Tat ertappt, rechtfertigt sich der gute Mann: «Ääh! Bitte entschuldigen Sie! Ich hatte nur nachgeschaut, ob das neue Update schon durch ist.»

Schreibtisch-Update

Ich runde meine Bestandsaufnahme mit einem Seitenblick auf Papa Ulrichs eingeschalteten Laptop am Schreibtisch ab. Eine «User-Mitteilung» steht dort zu lesen und macht schnell klar, woher die konsequente «Wäsche» von bereits allerjüngsten Gehirnen kommt: «Neue Updates werden geladen, bitte keine Bewegung!» Schon wieder ein sprachliches Unding: Ein Update ist ja per se schon «neu» Aber sei’s drum! Die Neuheit muss halt immer und überall hervorgehoben werden! So läuft hartes Marketing eben!

Ulrich erklärt: «Na ja, das macht der Laptop fast immer, wenn ich ihn einschalte!»

Echt jetzt? «Ja, und bevor ich ihn ausschalten will, meistens auch!»

«Nein! Wirklich?», ich kann es kaum fassen! «Ja und manchmal auch zwischendrin, während ich arbeite! Da können schon mal in einer einzigen Arbeitsstunde zwei bis drei Updates fällig werden!»

Ich frage mich spontan. Geht’s noch, Leute?

Bestandsaufnahme erledigt!

Perma-Update

Perma-Frost in den Böden ist in Klima-erwärmten Zeiten bald Geschichte. Dafür beginnt eine neue Never-Ending-Story rund um «Perma-Updates» bei Computern, Telefonen, Fotoapparaten, Smarten Häusern und sogar Staubsaugern. Auf einem der Geräte steht doch tatsächlich: «Update ready!»

Grausam, dieser Wahn!

Denn niemand scheint zu bedenken, was das mit der Lebenswelt unserer Kinder anstellt …

Erzkonservativ

Wussten Sie, liebe Freunde von FAMILIENSpick, dass Kinder im richtigen Leben erzkonservative Wesen sind? Das heisst, sie benötigen erstmal einige Zeit, bis sie sich auf etwas Neues eingestellt haben. Danach aber bleiben Sie gerne felsenfest dabei und wünschen sich, dass sich bitteschön möglichst lange nichts mehr verändert. Mit anderen Worten, es entspricht zutiefst der kindlichen Grundkonzeption sich eben keine «Updates» für Spielzeug, Kuscheltier und überhaupt die ganze Spielecke zu wünschen! Wir, die Gesellschaft, sind aber gerade fröhlich dabei, dieses Konzept vollständig zu vernichten. Alles zugunsten eines aggressiven Marktes, der davon lebt, Menschen etwas zu verkaufen, das sie noch lange nicht benötigen würden, stiesse man Sie nicht immerzu kräftig an.

Dinge des täglichen Gebrauchs werden somit schon alt, nachdem man sie ausgepackt hat. Das nehmen unsere Kinder sehr deutlich wahr, kopieren das Verhaltensmuster und… zack, mutieren sie zu Updatissimi vom Feinsten. Kindheit als obsoleszentes, sprich «veraltetes» Modell?

Update vom Update

Sie, liebe Freunde meiner Kolumne, sollten dem so einiges entgegensetzen. Gehen Sie für sich selbst erstmal die Dinge durch, die Sie gerne doch noch weiter «in Schuss halten» möchten, ohne sie bald zu ersetzen. Bestärken Sie nun, gerade vor Weihnachten, auch Ihr Kind darin, ebenso ein paar seiner «alten Sachen», aber auch seine «Umgebung» zu pflegen. Das inkludiert natürlich auch Menschen! Manche nennen so eine uralte Einstellung schlicht: «Wertschätzung». Kein Update bitteschön …

Zum Schluss erlaube ich mir, einen kleinen Test mit Ihnen anzustellen.

Wie ist Ihre Einstellung?

Dinosaurier-Test

Kurzer Einblick in mein «Leben»: Ich schreibe im Augenblick diese Kolumne auf einem IBM-Laptop, auf dem seit 2002 das System Windows XP läuft.

Ihr Testergebnis: Was halten Sie davon? Oder vielmehr: Was halten Sie ab jetzt von mir? Gratuliere, wenn jetzt nicht ganz automatisch in Ihnen das Urteil «Dinosaurier» aufsteigt. Ich habe diesbezüglich schon viel härtere Rückmeldungen einstecken müssen, bin persönlich aber ganz entspannt: «Never change a running system!», wende ich den alten Spruch gerne an. Ein Verhaltensmuster, das sich garantiert lohnt, auch in Ihrer Familie zumindest in kleinem Umfang gelebt zu werden.

Sie werden es mögen.

 

Bild: © Gerhard Spitzer / Foto: Walter Dormaier

Zur Person

Gerhard Spitzer, Heilpädagoge und Verhaltensforscher, Erfolgsautor und Seminar-Kabarettist, schreibt regelmässig und exklusiv für den FamilienSPICK, um seinen reichhaltigen «kindgerechten» Erfahrungsschatz zum Thema Erziehung mit Eltern, Lehrern oder einfach Interessierten zu teilen. Und das stets mit einem Augenzwinkern, denn: «Wenn man Spass an einer Sache hat, dann nimmt man sie auch ernst.» (Gerhard Uhlenbruck)