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«Schlaue Füchse haben einen Plan B»

Bäcker, Medizinische Praxisassistentin oder vielleicht doch Buchhändler? Mit der Frage «Was will ich werden?» beschäftigen sich Schülerinnen und Schüler ab etwa der 8. Klasse. Dabei fällt die Berufswahl nicht jedem gleich leicht und ebenso die Lehrstellensuche. Andres Züger ist Berufs- und Laufbahnberater im Laufbahnzentrum der Stadt Zürich und unterstützt Jugendliche und deren Eltern bei der Berufswahl und Lehrstellensuche.

Bild:©ImageFlow/shutterstock.com

Andres Züger, ein Jugendlicher muss sich bereits in sehr jungen Jahren mit der Berufswahl beschäftigen. Kann ein 14-Jähriger wirklich beurteilen, welcher Beruf für ihn der richtige ist?

Stellen Sie sich eine Pfanne gefüllt mit Popcorn vor, die langsam erhitzt wird. Sobald die Temperatur steigt, poppen die ersten Maiskörner auf. Wird die Idealtemperatur erreicht, poppt es wie verrückt. Plötzlich hört das Poppen auf, die Pfanne wird vom Herd genommen. Ein paar «Spätpopper» springen noch auf, und beim Abfüllen entdecken Sie jene Körner, die gar nicht erst aufgepoppt sind. Sinnbildlich könnte dieses Szenario eine Sekundarschulklasse im Berufswahlprozess symbolisieren. Die meisten Jugendlichen sind also in der Lage, während der regulären Schulzeit eine realistische Berufswahl zu treffen. Aber nicht alle sind zum gleichen Zeitpunkt dafür bereit. Ich erlebe praktisch in jedem Jahrgang 14-Jährige, die bereits wissen, welchen Beruf sie erlernen möchten. Die meisten Jugendlichen sind aber erst ein bis zwei Jahre später so weit. «Spätpopper» sogar erst, nachdem sie die obligatorische Schulzeit schon beendet haben. Leider gibt es auch Jugendliche, die den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt nicht schaffen. Aus psychologischer Sicht sind vor allem die Persönlichkeitseigenschaften entscheidend, wann jemand die «richtige» Berufswahl treffen kann. Wer neugierig, kompromissbereit, realistisch und zuversichtlich ist, und wer den einen oder anderen Misserfolg gut verdaut, wird in der Regel schneller so weit sein, sich für einen Beruf zu entscheiden. Berufsberatende, aber auch Lehrpersonen und Eltern, sollten daher versuchen, die Berufswahlbereitschaft möglichst ganzheitlich zu fördern.

Das Angebot der möglichen Berufslehren ist gross. Wie kriegt ein Jugendlicher einen Überblick, und wer könnte ihm dabei helfen?

Die meisten Schulklassen besuchen zu Beginn der 8. Klasse das für ihre Region zuständige Berufsinformationszentrum, wo sie in das Schweizer Bildungssystem eingeführt werden und entsprechende Informationen zur Berufswelt zusammentragen können. Einen guten Überblick gewinnt, wer eine Berufsberatung in Anspruch nimmt, an Informationsveranstaltungen, Berufsmessen oder Berufsbesichtigungen teilnimmt, sich entsprechend über einen Beruf informiert und sich mit den jeweiligen Anforderungen auseinandersetzt, Schnupperlehren absolviert oder einem Freizeitjob nachgeht. Kolleg*innen, Eltern, Verwandte, Bekannte, Berufsberatende und Lehrpersonen können Orientierungshilfen sein.

Wie werden die Jugendlichen in der Schule auf die Berufswahl vorbereitet?

Die Schule ist neben Eltern, Berufsberatung und Wirtschaft in der Vorbereitung der Jugendlichen ein wichtiges Puzzleteil. Bereits seit 2014 arbeiten Schulen in 21 Kantonen mit dem Lehrplan 21. Dieser beschreibt unter anderem die Kompetenzen für das Modul «Berufliche Orientierung». Es ist auf den Berufswahlfahrplan ausgerichtet und erstreckt sich über das 8. Schuljahr. Der Zürcher Lehrplan 21 legt punkto Berufswahl den Schwerpunkt beispielsweise auf das Entdecken und Erkennen von Begabungen und Interessen und Neigungen. In der Sekundarschule werden dafür zum einen entsprechende Lehrmittel verwendet. Zum anderen arbeitet die Berufsberatung eng mit den Sekundarschulen zusammen. Berufsberatende betreuen in der Regel ein ihnen zugeteiltes Schulhaus und bieten vor Ort Sprechstunden an. Je nach Berufswahlfahrplanphase arbeiten sie in Absprache mit den Lehrpersonen auch klassenweise an Themen, die gerade aktuell sind.

Welche Rolle spielen Eltern idealerweise bei der Berufswahl ihrer Kinder?

Die Eltern haben Vorbildfunktion und sind eindeutig die wichtigsten Kooperationspartner im Berufsfindungsprozess der Jugendlichen. Idealerweise sind sie über das Schweizer Bildungssystem und über den lokalen Lehrstellenmarkt informiert, nehmen die Berufswünsche ernst, hören zu und diskutieren sachlich, können die Fähigkeiten ihres Kindes realistisch einschätzen, finden eine Balance zwischen Druck und machen lassen und helfen zum Beispiel beim Vermitteln von Kontakten aus ihrem Arbeitsumfeld. In Beratungsgesprächen höre ich von Jugendlichen manchmal auch, dass sie sich wünschen, nicht den Berufsvorstellungen der Eltern entsprechen zu müssen, sondern dass ihr eigener Berufswunsch von den Eltern akzeptiert wird.

Die Berufsberatungen der einzelnen Kantone bieten für Schulabgänger ebenfalls Unterstützung an. Wie sieht eine solche Beratung aus?

Schulabgehende, die eine Lehre beginnen oder in eine Mittelschule übertreten, brauchen in der Regel keine Beratung mehr. In Brückenangeboten, das sind Zwischenlösungen für Schulabgehende, die noch keine Lehrstelle gefunden haben, bietet die Berufsberatung normalerweise die gleichen Dienstleitungen an wie in der Sekundarschule. Insofern laufen diese Beratungen grundsätzlich nicht anders ab. Der Unterschied besteht faktisch darin, dass die betroffenen Jugendlichen aus diversen Gründen eine einjährige Extrarunde drehen müssen. Im Beratungsgespräch wird erörtert, was die Gründe für die Extrarunde sind. Interessen, Fähigkeiten und Potenzial werden abgeklärt, das soziale Umfeld analysiert. Dann erarbeitet die Beratungsperson mit den Jugendlichen entsprechende Strategien für die Lehrstellensuche und unterstützt sie bei Bedarf bei der Realisierung.

Welche Kriterien sollten bei der Berufswahl im Vordergrund stehen?

Idealerweise stehen das Interesse am Beruf und die schulische, praktische und persönliche Eignung dafür im Vordergrund. Prestige, Benefits oder hohe Lehrlingslöhne sollten eine untergeordnete Rolle spielen. Wer mit seiner Wahl nur halbwegs zufrieden ist, die Lehre aber trotzdem abschliesst, kann dank der Durchlässigkeit im Schweizer Bildungssystem auch später die Weichen nochmals neu stellen.

Ist es sinnvoll, sich für verschiedene Berufslehren zu interessieren? Also quasi einen Plan B und vielleicht C zu haben?

Ja, vor allem dann, wenn jemand nur auf einen Beruf setzt, dessen Anforderungen aber nur teilweise erfüllt. Auch wer voll auf das Gymnasium fixiert und von den schulischen Leistungen zwar solid, fürs Gymi aber als knapp einzustufen ist, hat als schlauer Fuchs einen Plan B parat.

Ist es in den letzten Jahren für Jugendliche grundsätzlich schwieriger geworden, eine passende Lehrstelle zu finden? Wenn ja, woran liegt dies?

Schwieriger nicht, wenn man die Anzahl angebotener Lehrstellen anschaut. Gesamthaft übersteigt das Angebot gar die Nachfrage. Ich stelle aber fest, dass die Jugendlichen im Bewerbungsprozess immer mehr gefordert sind, unter anderem aufgrund der Digitalisierung. Einerseits müssen sie digital fit sein, damit sie überhaupt Bewerbungen einreichen können. Denn die klassische Papierbewerbung wird immer mehr durch andere Formate abgelöst. Viele Firmen nehmen Bewerbungen nur noch in digitaler Form entgegen oder verlangen beispielsweise ein Bewerbungsvideo. Andererseits steigen durch den digitalen Wandel auch die Anforderungen in der Lehre und in der Berufsfachschule. Firmen wollen folglich eine gewisse Sicherheit haben, dass ihre Lernenden diesen Anforderungen genügen. Sie verlangen berufsspezifische Eignungstests oder führen selber interne Assessments durch. Jugendliche, die hier nicht mithalten können, haben es deutlich schwieriger auf dem Lehrstellenmarkt.

Gibt es Branchen, in denen sich die Lehrstellensuche besonders schwierig gestaltet?

Zum einen kommt es auf die lokalen Gegebenheiten an. In Basel werden mehr Lehrstellen für Laborant*innen angeboten als in Zürich, und in Luzern ist die Chance, eine Lehrstelle als Grafiker*in zu ergattern, grösser als in Herisau. Zum anderen stellt sich dann die Frage, wie weit jemand bereit ist, seinen Radius bei der Lehrstellensuche zu vergrössern. Besonders schwierig wird es dann, wenn sich viel starke Konkurrenz auf wenige Lehrstellen stürzt.

Mit wie vielen Bewerbungen muss ich rechnen, um eine Lehrstelle zu finden?

Das kann ich pauschal nicht angeben. Es gibt Jugendliche, die erhalten bereits in der Schnupperlehre ein Angebot, andere schreiben erfolglos über 100 Bewerbungen. Aus meiner Erfahrung würde ich sagen: Wer pro 15 Bewerbungen ein Vorstellungsgespräch erhält, ist grundsätzlich gut und im richtigen Segment unterwegs.

Wie gehen Jugendliche mit Absagen um, und wie kann ich als Elternteil hier unterstützen und weiter motivieren?

Der Umgang mit Absagen ist sehr individuell und umfasst eine grosse Bandbreite an Reaktionen. Jugendliche berichten mir häufig, dass sie es nach einem Misserfolg sehr schätzen, zum Weitermachen ermutigt zu werden. Wenn es Eltern gelingt, ihr Kind emotional abzuholen, ihm Mut zuzusprechen, zu zeigen, dass sie an dessen Erfolg glauben und ihm Realisierungshilfe anbieten, wird es sich wahrscheinlich schnell von seiner Enttäuschung erholen. Manchmal sind Familien mit der Berufswahl aber auch überfordert oder nicht in der Lage, die Chancen eines Kindes realistisch einzuschätzen. In diesem Fall kann es ratsam sein, sich an die Berufsberater*in, an die Lehrperson oder an andere Fachleute zu wenden.

Was sind oft Gründe, dass es mit der Lehrstellensuche nicht klappt?

Vergessen wir nicht: Die Lehrstellensuche fällt mitten in die Pubertät. Gründe dafür gibt es also so viele wie Sandkörner am Strand. Lust und Unlust, etwas zu tun, unterliegen während der Pubertät besonders starken Gefühlsschwankungen. Manchmal haben Jugendliche, meistens zum Leidwesen der Eltern, einfach null Bock, oder sie fühlen sich noch nicht für die Berufswelt bereit. Was ich immer wieder erlebe, sind Jugendliche, die sich total überschätzen. Manchmal sind es aber auch ihre Eltern. Zudem sind manche zu wählerisch, oft aufgrund des geringen gesellschaftlichen Ansehens bestimmter Berufe. Bei einigen ist das soziale Umfeld nicht intakt, weshalb Jugendliche dann beispielsweise eine Suchtproblematik oder Gewalttätigkeit entwickeln können. Spät migrierte Jugendliche sind häufig traumatisiert, und oft mangelt es ihnen noch an genügend Deutschkenntnissen. Leider habe ich vor allem mit solchen Jugendlichen auch schon Rassismus bei der Lehrstellensuche erlebt.

Wie hat sich Corona auf die Lehrstellensituation in der Schweiz ausgewirkt?

Die Anzahl abgeschlossener Lehrverträge ist in etwa gleich wie letztes Jahr. Für den Lehrbeginn im Sommer 2021 zeigt sich, für viele vielleicht überraschend, grundsätzlich ein positives Bild. Einzelne Branchen sind aber stärker von den mit der Pandemie verbundenen Schutzmassnahmen betroffen. Beispielsweise sind in der Fitnessbranche und in der Gastronomie bestimmte Verzögerungen festzustellen. Für die kommenden Jahre gehen Bildungsökonom*innen davon aus, dass sich die Situation auf dem Lehrstellenmarkt aufgrund der durch Corona bedingten Rezession wahrscheinlich verschärfen wird.

Was kann ein Jugendlicher tun, wenn er Ende Schuljahr noch immer keine Lehrstelle gefunden hat? Was gibt es für Angebote/Anschlusslösungen?

Je nach Kanton gibt es unterschiedliche Angebote. Im Kanton Zürich besuchen viele ein öffentliches Berufsvorbereitungsjahr oder ein Motivationssemester. Es gibt aber auch Privatschulen, die Brückenangebote anbieten. Manchmal entscheiden sich Jugendliche auch für ein Praktikum oder einen Sprachaufenthalt.