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Mit allen Sinnen Wald entdecken

Wer sich mit Bäumen umgibt, tut sich viel Gutes. Universitätsprofessor Dr. Maximilian Moser verrät unter anderem, wie der Wald dazu beitragen kann, unser Wohlbefinden zu steigern, die Gesundheit zu fördern und neue Energie ins Leben zu bringen.

Bild: © Maria Evseyeva/shutterstock.com

Herr Prof. Dr. Moser, warum sind Bäume so wichtig für uns Menschen?

Wie kein anderes Pflanzenwesen ist der Baum ein Symbol für den Menschen und seine Entfaltung. Bäume zeigen, wie er in der Welt steht, ob er in der Realität verwurzelt ist und sich mit der Wirklichkeit gut verbinden, ob er sich entfalten und wachsen kann, wie es seiner Bestimmung entspricht. Nicht umsonst werden Bäume in der Kunst als Symbole für den Menschen gesehen und sprechen uns auch so tief an.

Gerade auch für die Entwicklung unserer Kinder hat der Wald und die Natur eine grosse Bedeutung.

Genau, auch für Kinder sind kräftige Bäume ein Symbol und ein Vorbild, das ihnen Stärke in ihrem Leben gibt. Zudem macht es Kindern Spass, im unebenen, verwurzelten Wald zu laufen, den Geruch von nassem Laub einzuatmen, weiches Moos zu berühren oder die unzähligen kleinen Waldbewohner zu entdecken. Andererseits schulen sie mit Bewegung im Wald das Gleichgewicht, neue Synapsen und Nervenbahnen im Gehirn werden gebildet. Gleichzeitig werden im Wald ihre Sinne angeregt, und das Reich der Fantasie wird beflügelt: Zauberbäume, Feengärten – das Geheimnisvolle zieht magisch an – nicht nur Kinder, auch Erwachsene.

Im Wald gibt es vieles zu entdecken – verraten Sie uns ein paar Ihrer Tipps?

Gerne, hier nur eines von unzähligen möglichen Beispielen: Ohne das entsprechende Wissen würde man kaum glauben, was im Wald alles essbar und dabei sehr gesund ist. Im Frühling beginnt es bei den Blättern der Laubbäume. Junge Lindenblätter, Rotbuchenblätter und Blätter vom Maulbeerbaum schmecken erstaunlich gut und sind voller Vitamine, Chlorophyll und Mineralstoffe. Die jungen Triebe von Fichten und Tannen werden als Heilmittel bei Atemwegserkrankungen, inbesondere Husten, eingesetzt. Dazu werden sie im Frühjahr gleich nach dem Austrieb geerntet, mit Zucker oder Honig in Gläser gefüllt und gut verschlossen für drei Wochen an die Sonne gebracht. Der entstehende Sirup enthält die Vitamine und ätherische Öle der jungen Nadelbaumtriebe und wird bei Bedarf löffelweise eingenommen.

Auch Shinrin-yoku – zu Deutsch Waldbaden – kommt in unseren Breitengraden immer mehr auf. Was bewirkt das genau?

Kein Wunder findet diese japanische Achtsamkeitspraxis auch hierzulande immer mehr Anhängerinnen und Anhänger. Denn ein Spaziergang im Wald bringt weit mehr als nur gesteigertes Wohlbefinden. So hat etwa Prof. Dr. Qing Li, einer der wichtigsten Experten für Waldbaden, zahlreiche positive Effekte auf die Gesundheit nachgewiesen. Dazu gehören beispielsweise die Reduktion von Stresshormonen, die Senkung des Blutdrucks und der Herzfrequenz. Er hat in seinen Studien belegt, dass besonders das Einatmen von Terpenen, also den Botenstoffen, die Bäume zur gegenseitigen Kommunikation verströmen, guttut. Im menschlichen Immunsystem vergrössern diese Stoffe die Anzahl der natürlichen Killerzellen und verstärken ihre Aktivität, ein Effekt, der nachweislich mindestens sieben Tage nach dem Waldbesuch noch anhält. Damit könnte das Waldbaden sogar präventiv gegen Krebserkrankungen wirken, da die natürlichen Killerzellen Proteine zur Bekämpfung von Krebszellen freisetzen. Zudem vermutet man, dass negative Luftionen, die im Wald in erhöhter Konzentration vorkommen, einen erfrischenden Effekt erzeugen und die Reinigungsvorgänge in der Schleimhaut der Atemwege verbessern. Waldbaden wirkt jedoch nicht nur über die gute Luft und die Stoffe der Bäume, sondern auch durch die Achtsamkeit und Konzentration, mit der man sich im Wald aufhält. Ausgedehnte Wanderungen und auch gezielte Atem- oder Bewegungsaktivitäten im Wald sind deshalb Balsam für Körper und Seele.

So wird das Immunsystem im Wald gestärkt

Professor Qing Li, der Medizinprofessor in Tokyo, hat eine Liste mit Grundregeln erstellt, um die Interaktion zwischen den Waldbäumen und dem menschlichen Immunsystem ideal zu gestalten:

1. Bleiben Sie mindestens zwei Stunden im Wald und gehen Sie in dieser Zeit etwa 2,5 Kilometer. Wenn Sie vier Stunden Zeit haben, gehen Sie ungefähr 4 Kilometer. Um Ihre natürlichen Killerzellen und die Anti-Krebs-Proteine auch langfristig zu stärken, sind drei Tage hintereinander in einem Waldgebiet empfohlen.

2. Machen Sie einen Spazier- oder Wanderplan, der Ihren körperlichen Voraussetzungen entspricht. Achten Sie darauf, während des Aufenthalts im Wald nicht müde zu werden.

3. Wenn Sie sich müde fühlen, machen Sie eine Pause, wann immer Sie möchten und so lange Sie möchten. Suchen Sie sich dazu einen Ort im Wald, an dem Sie sich wohlfühlen.

4. Wenn Sie Durst haben, trinken Sie am besten Wasser oder Tee.

Suchen Sie sich einen Platz im Wald, der Ihnen spontan gefällt und Sie zum Verweilen einlädt. Bleiben Sie dann dort eine Zeit lang sitzen, um zum Beispiel zu lesen oder zu meditieren, jedenfalls aber, um das wunderschöne Ambiente zu geniessen und zu entspannen.

Um die Anzahl und Aktivität der natürlichen Killerzellen und der Antikrebs-Proteine des Immunsystems dauerhaft hochzuhalten, empfiehlt Qing Li pro Monat einen zwei- bis dreitägigen Aufenthalt in einem Waldgebiet und rät, sich pro Tag etwa vier Stunden im Wald aufzuhalten.

Diesen Ratschlägen von Professor Qing Li fügt Clemens G. Arvay (Autor «Der Biophilia Effekt») noch folgende Tipps hinzu:

1. Der Gehalt der Anti-Krebs-Terpene in der Waldluft ändert sich im Laufe der Jahreszeiten. Die Konzentration ist im Sommer am höchsten und im Winter am niedrigsten. Sie steigt im April und Mai rasch an und erreicht im Juni und August ihren Höhepunkt. In diesen Monaten gibt es für Ihr Immunsystem in Wald also am meisten aufzunehmen.

2. Die Terpene sind ausserdem im Waldesinneren am höchsten konzentriert, da der Baumbestand dort dichter ist und die Blätter und Nadeln der Bäume eine besonders reiche Quelle darstellen. Noch dazu hindert das dichte Kronendach die gasförmigen Substanzen daran, den Wald zu verlassen. Es empfiehlt sich also, tiefer in den Wald hineinzugehen undnicht nur am Waldrand zu verweilen.

3. Wenn feuchtes Wetter herrscht, zum Beispiel nach Regen oder bei Nebel, schwirren besonders viele der gesunden Terpene in der Waldluft umher. Unsere Erfahrung täuscht uns also nicht, wenn uns ein Waldspaziergang nach einem Regenguss ganz besonders gutzutun scheint.

Aussergewöhnlich schöne Schweizer Wälder

Über 800 bemerkenswerte Naturwaldreservate gibt es heute in der Schweiz. Dazu gehört beispielsweise der höchstgelegene Fichtenurwald Europas, das «Reservat d’uaul primitiv» bei Brigels im Bündnerland (surselva.info). Im Tessiner Valle di Lodano gibt es wunderschöne alte Buchenwälder (valledilodano.ch), und nur einen Katzensprung von Zürich entfernt, trifft man im Sihlwald auf bis zu 250-jährige Baumriesen (wildnispark.ch). Kaum berührte Natur findet man auch im Waadtland, im mystischen Risoud-Wald (myvalleedejoux.ch).

Buchtipps und Quelle:

Prof. Dr. Maximilian Moser ist fünffacher Vater und Professor an der Medizinischen Universität Graz. Er studierte Biologie und Medizin und leitet das Human Research Institut für Gesundheitstechnologie und Präventionsforschung. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a.:

«Waldeskind – Die Bedeutung von Wald und Natur für die Entwicklung unserer Kinder»: In diesem wertvollen Buch beschreibt er viele neue Fakten, die aufzeigen, welche wesentliche Rolle der Wald und die Natur für die Entwicklung unserer Kinder spielen. Mit vielen Ideen und Anregungen, was Familien im Wald gemeinsam erleben können. Servus Verlag, ISBN 978-3-7104-0284-5.

«Der Biophilia Effekt», Heilung aus dem Wald, von Clemens G. Arvay, Edition A, ISBN 978-3-990-011133.