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Langeweile hat auch einen Sinn

Die Langeweile erhielt während der Pandemie-Krise für viele Kinder und Eltern eine neue Bedeutung. Die Langeweile birgt auch Vorteile für das Kind.

Bild: © NadyaEugen/shutterstock.com

Wie waren sie unendlich lang, die Sonntage im Sommer, damals in den 70er-Jahren. Aus dem Fernseher röhrten die Formel-1-Maschinen, Mutter sonnte sich auf der Terrasse und wir durften auf dem Schulhausplatz nicht Fussball spielen, weil es eben Sonntag war in einem katholischen Dorf. Es blieb nichts anders übrig, als im Garten rumzuhängen, Radiomusik mit dem Kassettentonband aufzunehmen oder dem Alter entsprechend traf man sich in der Dorfbeiz unten in der Kegelbahn, um den Sonntag durchzuflippern. Und trotz dieser gefühlten Ewigkeiten machte sich am Sonntagabend der Koller bemerkbar auf den Schulstart am Montag.

Mit Langeweile bringt der Duden ein «unangenehmes und als lästig empfundenes Gefühl der Eintönigkeit, Ödheit» in Verbindung, aus Mangel an Abwechslung und «interessanter, reizvoller Beschäftigung». Und trotz dieser zutreffenden Beschreibungen wollten wir damals nicht unbedingt wieder in die Schule. Heute scheint der Zeitgeist das Wort «Langeweile» aus dem Duden streichen zu wollen. Doch wäre das sinnvoll und hat die Langeweile auch einen Zweck?

Warten mit Eingreifen

Auch heute hört die Mutter, die sich an einem Regensonntag auf ihr gutes Buch freut, den Satz aus dem Kinderzimmer: «Mama, es ist sooo langweilig!» Ein Satz, der sicherlich im Zeitalter der Lockdowns wohl bis zum Überdruss gehört wird. Signale einer sich aufziehenden Langeweile sind auch, wenn Kinder beginnen herumzuquengeln oder auffällig anhänglich werden. Nachvollziehbar ist es folglich, dass die Eltern dann das Buch oder die Computermaus weglegen und sich nun dran machen, dem Kind die Zeit verkürzen zu wollen. Eltern sind oft im Stand-by-Modus, um sofort einzugreifen, wenn sich bei Kindern eine Leere auftun sollte. Das sei nicht immer sinnvoll, kommen immer mehr pädagogische Fachleute zum Schluss. Die Autorin Marianne Siegenthaler bringt es in einem Beitrag für das Onlinemagazin «Familienleben» auf den Punkt: «Wenn die Kleinen nicht wissen, was sie tun sollen, erwarten sie natürlich von ihren Eltern, dass diese ihnen helfen. Oft aber schiessen Eltern mit ihren Beschäftigungsangeboten übers Ziel hinaus. Die Kinder lernen nicht, selbstständig zu spielen, weil sie gewohnt sind, dass Eltern ständig Ideen produzieren und Programme gestalten.»

Ein Vollzeit-Animationsangebot könnte demnach die Eigeninitiative zum Spielen und Fantasieren erdrücken. Der Verfasser durfte während einer Zugfahrt mit Freunden in Polen beobachten, wie der kleine Sohn des Gastgebers die ganze Zeit über mit einer Streichholzschachtel spielte. Mal war es ein Ufo, dann wieder ein Auto oder es verwandelte sich in seiner Fantasie in irgendein Gerät, das alles kann. Dies ging so lange, bis der Junge einnickte. Die Autorin Siegenthaler meint, dass die «Langeweile auch den Zweck hat, das Kind zu Kreativität anzuregen, weil es der Leere Ideenreichtum entgegensetzen muss.» Also «Dolce far niente» – das süsse Nichtstun – könnte seinen Zweck haben.

Fremd- statt Selbstbestimmung

Ein weiterer Aspekt von Fremdbestimmung oder von Überangebot an Abwechslung besteht darin, dass das Kind nicht mehr in der Lage ist, sein eigenes Tempo zu bestimmen, mit Spielsystemen und Themen vertraut zu werden und durch Wiederholungen Sicherheit zu verspüren. Dass immer wieder neu die Klötze gestapelt werden sollen, bis es zusammenkracht, gehört zum Vertrauten, zum Wissen, was nun kommt. Aus diesem vertrauten Ablauf wird neue eigene Entdeckungs- und Abenteuerlust entstehen. Überbordende Eindrücke und Ablenkungen könnten die Orientierung nach Vertrautem ins Schlingern bringen.
Zu einer vertrauten und beruhigenden Atmosphäre gehören auch Momente, in denen Eltern im Wohnzimmer anwesend sind und das Kind für sich spielt. So weiß es, dass es jederzeit seine Zeichnung oder sein fertig gebrachtes Spiel präsentieren kann. Es muss nicht immer nötig sein, mit dem Kind zu spielen, es darf gerne auch mal nur eine Gegenwart der Eltern sein.

«Selber auf Ideen kommen»

Das Empfinden von Langeweile oder von der Freiheit der Freizeit kann sehr unterschiedlich sein. Erst recht, wenn wir den Blick auf Kinder und Jugendliche werfen, die durch Beeinträchtigung von Gehör und Sprache die Welt etwas anders erleben. Claudia Westhues ist Schulleiterin am Zentrum für Gehör und Sprache in Zürich, eine Sonderschule für Kinder und Jugendliche mit einer Hör- oder schweren Sprachbeeinträchtigung und gibt Auskunft, wie es hier mit der Langeweile steht.

Langeweile scheint bei vielen Kindern und Jugendlichen durch Überbeschäftigung ein Fremdwort zu werden. Wie erleben Sie die Kinder an Ihrer Schule mit den besonderen Herausforderungen?

Claudia Westhues: Überbeschäftigung sehe ich weniger bei unseren Schülerinnen und Schülern. Unsere Schule wird von Kindern und Jugendlichen aus der ganzen Deutschschweiz besucht, das bedeutet, dass viele von ihnen einen sehr langen Schulweg und anstrengenden Tag haben. Wenn sie nach Hause kommen, bleibt nicht mehr viel Freizeit. Ich sehe teilweise eher das umgekehrte Problem. Viele unserer Kinder und Jugendlichen kommunizieren in Gebärdensprache. Hier gibt es nicht viele Angebote, an denen sie an ihrem Wohnort teilhaben können. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen besucht daher unsere Wohngruppe. Hier können sie mit Gleichaltrigen ohne Kommunikationshürden miteinander kommunizieren, spielen etc.

Dann sind lange Ferien nicht unbedingt immer schön …

Nach den Ferien beobachten wir jeweils, wie gerne die Kinder und Jugendlichen wieder in die Schule kommen. Das hat auch mit dem Thema der Langeweile und der fehlenden Kommunikation zu tun.

Welche Qualitäten oder auch Gefahren sehen Sie der Langeweile?

Westhues: Eine kurze Langeweile bei Kindern im Sinne von «ich weiss gerade nicht, was ich spielen soll» finde ich nicht schlimm. Kinder sollen auch die Gelegenheit haben, selber auf Ideen zu kommen und nicht immer von Erwachsenen umgeben sein, die bei einer kleinen Langeweile sofort ein Angebot parat haben. Wenn Kinder wie auch Erwachsene aktiv sein können, wenn sie Aufgaben haben, bei denen sie sich als wirksam erleben, verfliegt die Zeit, also das Gegenteil von Langeweile. Wenn wir keine sinnvollen und zu bewältigenden Aufgaben haben, bin ich sicher, dass sich dies auf Dauer negativ auf die Gesundheit auswirkt.

Wenn Sie selber an Ihre Kindheit zurückdenken, erinnern Sie sich an Langeweile?

Nein, nicht wirklich. Ich erinnere mich an ganze Tage, die ich mit den Nachbarskindern spielend auf der Strasse verbracht habe oder ganze Sommerferien, die wir in der Badi waren. Es waren lange, schöne Tage. Als ich älter wurde, fing es bereits an mit einer vollen Agenda und vielen musikalischen Aktivitäten neben der Schule. Da habe ich mir damals schon mehr unverplante Zeit gewünscht, obwohl die vielen Aktivitäten alle freiwillig waren.

Sie sind beruflich in der Pädagogik und in der Kulturszeneu. a. als Musikerin sehr engagiert. Gibt es noch Zeiten der Langeweile? Und halfen die Lockdowns, diese wiederzufinden?

Ehrlich gesagt habe ich in der ersten Zeit wenig vermisst. Meine Tage waren immer sehr ausgefüllt und die Zwangspause hat mich etwas zur Ruhe kommen lassen. Von Langeweile würde ich nicht sprechen. Wie sehr mir das gemeinsame Musizieren und Singen fehlt, habe ich erst gemerkt, als es zwischendurch wieder möglich war. Jetzt ruht wieder alles, ich halte dies gut aus. Es macht auch wieder Platz für Neues.

Langweile oder auf gut altes Deutsch «Müssiggang», hat viele Facetten, für Gross und Klein. Und durch die globale Pandemie-Krise wurde sie auch irgendwie wiederentdeckt. Der Schriftsteller Max Frisch meinte mal: «Geist ist die Voraussetzung der Langeweile.» Mit anderen Worten, wenn sich unsere Kinder wieder mal langweilen sollten, so muss das kein schlechtes Zeichen sein.

Hilfen gegen Langeweile

Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie aus Tüchern und Stühlen ein Zelt oder wie Kartonschachteln zu Burgen wurden. Ein sicherer Wert ist rauszugehen, in Natur, wo es immer was zu sehen gibt, auch bei Regen. Das Helfen im Garten oder in der Küche muss nicht immer als Arbeit gesehen werden, es können Beschäftigungen sein, die sogar Spass machen.

Die Pro Juventute empfiehlt Eltern u. a. folgendes als Anregung:

  • Kindern Zeit zum Träumen und zum Nichtstun schenken, auch zusammen.
  • «Pyjama-Sonntage» können ganz entspannt sein.
  • Kein Stress, wenn Kinder mal rumhängen.
  • Kinder selber ausdenken lassen, was getan werden könnte.
  • Ideen auf Papierzettel schreiben und in die «Langeweileschachtel» legen für den Bedarf.

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