In der Schweiz steigt die Anzahl der Fälle von Schulabsentismus. Das längere Fernbleiben vom Unterricht kann verschiedene Ursachen haben. Ein zu langes Warten erschwert die Reintegration der Kinder und Jugendlichen. Empfohlen wird eine gute Vernetzung zwischen Eltern, Schule und Fachpersonen.
Keine Lust auf Schule
Corina ist 16 Jahre alt und würde jetzt eigentlich die dritte Oberstufe besuchen. Tatsächlich ist sie aber seit letztem Winter nicht mehr zur Schule gegangen. Das 16-jährige Mädchen ist wegen einer Depression im Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Clienia Littenheid in stationärer Behandlung. «Rückblickend», sagt sie, «bin ich schon immer ein unglückliches Kind gewesen, schwermütig und melancholisch.» Erstmals gezeigt hatten sich ihre Probleme vor etwa vier Jahren, noch im Primarschulalter: Ihre Noten wurden zusehends schlechter, weil sie sich auf nichts konzentrieren konnte und dauernd müde war. Ihre Eltern dachten, sie sei einfach nur faul. Damals hat Corina angefangen, hin und wieder die Schule zu schwänzen. Manchmal, weil sie einfach keine Lust hatte, hinzugehen, und manchmal, weil ihr die Energie dazu fehlte. Sie erinnert sich, dass zu dieser Zeit ihre Schwindelanfälle erstmalig auftraten.
Ein Teufelskreis
Mit ihren Eltern sprach Corina nie über ihren Gefühlszustand, weil sie sich ihnen nicht nah genug fühlte und sie die Beziehung zu ihnen als schlecht empfand. Seit da besuchte sie die Schule nur noch unregelmässig, war oft krank. Manchmal schrieb sie Prüfungen über Themen, von denen sie bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Entsprechend tief fielen ihre Noten aus, was sie noch mehr deprimierte. Die Hürde, nach langem Schulabsentismus wieder hinzugehen, wurde mit jedem Tag der Abwesenheit grösser. «Es ist wie ein Teufelskreis», erzählt sie, «die Motivation sinkt bei sowieso schon riesiger Unlust. Vielleicht hätte es geholfen, etwas Druck rauszunehmen.»
Immer mehr Mädchen
Wie das Fachmagazin «Bildung Schweiz» des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) im Beitrag «Schwänzen kann ein Notsignal sein» informiert, nehmen die Fälle von Schulabsentismus in der Schweiz zu. Vor allem Mädchen fehlen offenbar häufiger in der Schule. Eine Umfrage der «NZZ am Sonntag» vor einigen Monaten zeigte: Von 17 Kantonen melden 14 einen gefühlten Anstieg der Fälle. Mehrere Kantone haben inzwischen reagiert – mit Massnahmen, Weiterbildungen und Merkblättern zum Thema. Auch die Pisa-Studie 2022 bestätigt den Trend – allerdings nur, was das Schwänzen anbelangt: Zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler gaben darin an, dass sie in den zwei Wochen vor dem Test mindestens einen Tag gefehlt hätten. Das entspricht einer Verdopplung gegenüber 2015. Ein Ende 2023 veröffentlichter Bericht zur Gesundheit von Schülerinnen und Schülern in der Stadt Zürich kam zum Schluss: 20 Prozent der Mädchen haben mindestens einmal eine Stunde geschwänzt. Bei den Knaben sind es 17 Prozent. Mindestens einen ganzen Tag geschwänzt haben 15 Prozent der Mädchen und zwölf Prozent der Knaben. Der Schule schon mehrmals tageweise ferngeblieben sind sieben Prozent der Mädchen und fünf Prozent der Knaben.
Steigende Tendenz seit Corona
Die Corona-Krise scheint diesen Trend zusätzlich verstärkt zu haben. So jedenfalls wird es von verschiedenen Fachleuten aus der Schulpsychologie dargestellt. Damals wurde das Verbleiben in den eigenen vier Wänden zur Normalität. Der Schritt zurück in den Schulalltag stellte dann für einige Schülerinnen und Schüler eine zu grosse Hürde dar. Dies kann auch Lukas Oberschneider, Oberarzt der Clienia Littenheid AG, einer Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Littenheid, bestätigen. Er betreut mit seinem Team regelmässig Kinder und Jugendliche, die aus physischen oder psychischen Gründen der Schule fernbleiben. «Der Unterbruch des Präsenzunterrichts während der Corona-Krise scheint dem Schulabsentismus zusätzlichen Auftrieb verliehen zu haben.»
Verschiedene Formen von Schulabsentismus
Während das gelegentliche Schwänzen des Schulunterrichts meist mit Unlust und fehlender sozialer Kontrolle durch das Elternhaus in Verbindung steht, bringt der Schulabsentismus in der Regel ein längeres Fernbleiben von der Schule mit sich. Laut Bildung Schweiz gelten als Schulabsentismus häufige unentschuldigte schulische Fehlzeiten, die mit einem erheblichen Widerstand gegen den Schulbesuch einhergehen und denen keine körperliche Ursache zugrunde liegt. Man unterscheidet zwischen verschiedenen Formen von Schulabsentismus, die von Schulverweigerung, Schulschwänzen über Schulangst, Schulphobie bis zur schulischen Über- oder Unterforderung reichen. «Oft fällt es diesen Kindern und Jugendlichen schwer, einen ganzen Tag an der Schule durchzuhalten und sich über einen längeren Zeitraum hinweg zu konzentrieren», sagt Lukas Oberschneider. Ziehe sich diese Krise über mehrere Wochen und Monate hin, steige der Leidensdruck laufend an. Der Oberarzt stellt fest, dass Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Schichten, auch aus gut situierten und fürsorglichen Familien, davon betroffen sind. «Es kann alle treffen», betont Lukas Oberschneider.
Von Mobbing bis ADHS und Depressionen
Was weiss man über die Hintergründe und Ursachen dieses Phänomens? Als einen relevanten Faktor nennt der Kinder- und Jugendpsychiater Schulangst als Folge von schlechten Erfahrungen an der Schule – beispielsweise durch Mobbing oder Gewalt. Komplexe psychische Erkrankungen oder auch Depressionen gehen ebenso gehäuft mit Schulabsentismus einher. Nicht selten würden bei Fernbleiben von der Schule weitere depressive Symptome wie Energielosigkeit, niedergeschlagene Stimmung und Schlafstörungen oder mitunter auch Zwangsstörungen auffallen, die den Schulbesuch erschweren. «Wir beobachten bei Schulabsentismus häufig auch ADHS-Symptome», ergänzt Lukas Oberschneider. Dabei falle es den Betroffenen zunehmend schwer, angesichts ihrer Aufmerksamkeitsdefizite den Schulstoff zu verarbeiten. «Auch dies kann schlussendlich in einer Depression enden», gibt Lukas Oberschneider zu bedenken. Eng mit einer Depression verbunden sei zudem ein Mangel an Selbstwertgefühl. «Weshalb ein Kind oder ein Jugendlicher der Schule über einen längeren Zeitraum fernbleibt, ist oft sehr individuell mit starken psychischen Belastungen verbunden.»
Auf erste Anzeichen achten
Auf welche Anzeichen sollten Eltern achten, um möglichst früh gegen Schulabsentismus reagieren zu können? Hierzu gibt es verschiedene Verhaltensmuster, die auf eine Vermeidung des Schulbesuchs gerichtet sind – zum Beispiel intensive morgendliche schulbezogene Konflikte mit den Eltern, stark ausgeprägtes morgendliches «Trödeln», massive Ängste morgens oder abends vor einem Schultag oder wiederkehrende somatische Beschwerden morgens ohne erkennbare körperliche Ursache. Hinzu kommen meist nachlassende schulische Leistungen. Eltern wird empfohlen, das Gespräch mit dem Kind zu suchen und herauszufinden, welche Situationen es vermeiden möchte. Zu vermeiden sind Vorwürfe, vielmehr sollte die Tochter oder der Sohn ermutigt werden, zur Schule zu gehen. Wichtig dabei ist, konsequent zu bleiben und das Kind nicht zu Hause zu lassen. Weiter sollte das Kind nicht unter Druck gesetzt werden, sehr gute Schulnoten zu erzielen. Denn Stress und Leistungsdruck führen zu Überforderung.
Engagement der Eltern
Auch das Schulklima und die Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern haben einen Einfluss auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler. Hier können Eltern ebenfalls einiges bewirken, indem sie sich zum Beispiel im Elternrat engagieren, Informationsanlässe für Eltern zu schulischen Themen organisieren oder entsprechendes Informationsmaterial bereitstellen. Schule und Elternhaus Schweiz unterstützt die Eltern und Elternräte auf fachlicher Ebene. Das Engagement der Eltern an der Schule fördert zudem das Verhältnis und den Austausch mit den Lehrpersonen. Gerade in herausfordernden Situationen erweist sich ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis zwischen Schule und Eltern als wertvoll.
Externe Unterstützung holen
Im Umgang mit Schulabsentismus gibt es laut Lukas Oberschneider keine Patentlösung. Doch allgemein gilt: Je länger man zuwartet, desto schwieriger wird es, die betroffenen Schülerinnen und Schüler wieder in den Unterricht zurückzuholen. Zu gross ist die Flut an Schulstoff, der nachgeholt werden muss. Ganz zu schweigen von den Mitschülern, mit denen die Betroffenen wieder zurechtkommen müssen. Deshalb sollten sich Eltern und Lehrpersonen, so Lukas Oberschneider, externe Unterstützung holen. Denn das Problem Schulabsentismus lasse sich meist nicht aus eigener Kraft lösen. Für die Eltern sind die Lehrpersonen die erste Anlaufstelle. In vielen Schulen steht ausserdem eine Schulsozialarbeiterin oder ein Schulsozialarbeiter zur Verfügung. Auch die Schulleitung, Elternberatungsstellen oder die schulpsychologischen Dienste bieten sich als weitere Anlaufstellen für die Eltern an.
Ambulant oder stationär
Eine psychotherapeutische und gegebenenfalls auch medikamentöse Behandlung der Grunderkrankung entspricht gemäss Lukas Oberschneider einem üblichen Vorgehen bei Schulabsentismus. Eine teilstationäre Behandlung an einer Tagesklinik kann gewählt werden, wenn dieser Behandlungsrahmen nicht ausreicht und die Tagesstruktur durch diese umfassende Behandlung gesichert werden muss. Eine stationäre Behandlung wird dann empfohlen, wenn diese Massnahmen nicht ausreichen und beispielsweise eine unfreiwillige Behandlung indiziert ist. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Schulbesuch über Monate hinweg nicht mehr sichergestellt werden kann oder schwerwiegende psychische Erkrankungen vorliegen. Das Ziel der ambulanten sowie stationären Behandlung ist, so Lukas Oberschneider, die Wiedereingliederung in die Schule. «Eine adäquate Behandlung kann häufig ernste Folgen verhindern und das Kind bzw. der Jugendliche lernt Strategien, wie der regelmässige Schulbesuch gelingen kann.» Neben der Behandlung der Betroffenen sei die Vernetzung und der regelmässige Austausch zwischen Eltern, Therapeutinnen und Therapeuten, dem Schulsozialdienst sowie der Lehrperson wichtig. Das Kind soll in die Kommunikation einbezogen werden. Eine voreilige Information in der Klasse beispielsweise erachtet Lukas Oberschneider nicht als sinnvoll.
Nicht zu lange warten
Wie stehen die Erfolgschancen einer Therapie? «Je früher die Intervention, desto höher stehen die Erfolgschancen einer Behandlung», unterstreicht Lukas Oberschneider. Zur erfolgreichen Reintegration nach einem Schulabsentismus tragen weiter begleitende Massnahmen etwa durch die psychiatrische Spitex, eine Unterstützung im Schulunterricht mit unterschiedlichen Schulformen und Klassengrössen sowie dem Beizug von heilpädagogischen Fachpersonen bei.
Fixpunkte und Strukturen fallen weg
Ein längeres Fernbleiben von der Schule bleibt nicht folgenlos. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen fallen Fixpunkte und Strukturen im Alltag weg, ebenso die regelmässige Betreuung durch Erwachsene. Hinzu kommt: Je länger man von der Schule fernbleibt, umso grösser steigt der Druck bzw. Stress, weil man befürchtet, den Schulstoff nicht mehr nachholen zu können. Darunter leiden laut Lukas Oberschneider nicht nur die Kinder und Jugendlichen, sondern ebenso die Eltern. Eine Zunahme der psychischen oder psychosomatischen Symptome kann die Folge sein. Es besteht die Gefahr, dass der Schulabschluss nicht gewährleistet werden kann; dies wiederum erschwert die Integration ins Arbeitsleben, zugleich aber auch in die Gesellschaft. Abgesehen von der Einschränkung der Lebensperspektiven des Einzelnen führt Schulabsentismus ferner zu volkswirtschaftlichen Kosten.
KV-Lehre und WG
Corina geht es heute, nach einem Monat in der Klinik, bedeutend besser als bei ihrem Eintritt. Aromatherapie und Meditation helfen ihr, ihre bedrohlichen Gedanken im Zaum zu halten. Und sie hat auch wieder eine Perspektive: Nach den Sommerferien will sie ihre kaufmännische Lehrstelle bei einer Versicherung antreten und in eine WG ziehen. Sie hofft, dass sie mit dem Druck umgehen kann und den schulischen Anschluss schafft.