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Der Grosse Tag rückt näher: Wie mein Kind fit für die Schule wird

Es dauert zwar noch einige Monate, bis das neue Schuljahr losgeht. Dennoch sind bereits jetzt die grossen Kindergartenkinder gespannt, was sie dann erwarten wird. Und die Eltern fragen sich: Ist mein Kind überhaupt schulreif? Wie kann ich mein Kind unterstützen, wenn sich Probleme abzeichnen? Philipp Loretini, Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie FSP, Schulpsychologischer Dienst des Kantons St. Gallen, Leiter Regionalstelle Rorschach, gibt im Interview hilfreiche Tipps.

Bild:©Sharomka/shutterstock.com

Der August und der damit verbundene erste Schulalltag werden in vielen Familien mit Spannung erwartet. Für alle grossen Kindergartenkinder stehen wichtige Veränderungen an. Einige werden sich fragen: Wie merke ich überhaupt, dass mein Kind reif ist für die Schule?

Das schulreife Kind ist in der Regel stolz, im Kindergarten zu den Grossen zu gehören und freut sich auf den Wechsel in die Schule. Es zeigt beispielsweise Interesse an Zahlen und Buchstaben oder freut sich explizit auf das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Häufig haben sich die Kinder bereits erste Kompetenzen in diesen Bereichen angeeignet und zeigen diese, indem sie beispielsweise ihren Namen aufschreiben, laut zählen, einfache Rechnungen aufsagen oder kurze Wörter zu erlesen versuchen.

In vielen Kantonen gibt es mittlerweile Rückstellungen, weil die Eltern ihre Kinder als zu jung ansehen, um den Kindergarten und anschliessend die Schule zu besuchen. Kann das verallgemeinert werden, dass ein späterer Schuleintritt einem Kind leichter fällt? Oder ist das ein Trugschluss?

Eine Verallgemeinerung ist nicht möglich. Jedes Kind ist einzigartig und bringt ganz unterschiedliche Erfahrungen und Voraussetzungen mit. Die Verunsicherung bei den Eltern verstehe ich aber gut. Denn der biologische Reifeprozess und damit das Alter der Kinder erklärt natürlich einen erheblichen Anteil an der Entwicklung des Kindes. Ob ein Kind gerade erst vierjährig geworden oder schon fast fünf Jahre alt ist, macht in der Entwicklung schon einen Unterschied.

Worin zeigt sich das?

Beispielsweise fällt es älteren Kindern in der Regel leichter, länger an einer Arbeit dranzubleiben oder sich emotional zu regulieren. Sie sind jüngeren Kindern auch in ihrer sozialen und motorischen Entwicklung oft überlegen. Damit haben sie innerhalb ihres Jahrgangs einen gewissen Vorteil und können bestimmte Anforderungen im Kindergarten besser meistern. Die Erwartungen des Kindergartens an die Kinder müssen aber auch auf die jüngeren Kinder des Jahrgangs abgestimmt sein, weshalb bei normal entwickelten jungen Kindern eine Rückstellung nicht nötig ist. In der Klasse können diese Kinder durch die Vorbildfunktion reiferer Kinder zudem profitieren und einen allfälligen Rückstand oft schnell schliessen.

Kann sich eine Rückstellung auch negativ auf die Entwicklung eines Kindes auswirken?

Fehlende Reife eines Kindes oder ein Rückstand in wichtigen Entwicklungsbereichen kann auch Folge fehlender Lernerfahrungen sein. Eine Rückstellung solcher Kinder wäre für deren Entwicklung nachteilig – insbesondere, wenn das Rückstellungsjahr nicht dafür genutzt wird, das Kind möglichst optimal auf den aufgeschobenen Kindergarteneintritt vorzubereiten.

Auch wenn die Kinder im Kindergarten auf die Schule vorbereitet werden – der Sprung kann einige Kinder (über)fordern. Was können Eltern tun, damit der Übergang leichter fällt?

Die Vorbereitung auf die Schule ist ein langfristiger Prozess und beginnt nicht erst in den letzten Wochen vor dem Übertritt. Während der gesamten Kindergartenzeit erwerben sich die Kinder Fertigkeiten, die ihnen einen guten Schulstart ermöglichen sollen. In der Schule wird am Lernstand des Kindergartens angeknüpft. Ich empfehle den Eltern daher während der ganzen Kindergartenzeit einen aktiven Dialog mit den Fachpersonen des Kindergartens zur Entwicklung ihres Kindes. Sollte von den Kindergartenlehrpersonen beim Kind ein spezieller Förderbedarf formuliert werden, ist es wichtig, dieser Einschätzung mit Offenheit zu begegnen. Im gemeinsamen Gespräch gilt es herauszufinden, wer das Kind mit welchen Massnahmen unterstützen kann, damit es seinen Rückstand aufholen kann. Bei Fragen oder unterschiedlichen Einschätzungen kann eine neutrale Fachstelle hinzugezogen werden.

Wie wichtig ist dabei die Rolle der Eltern?

Eine wohlwollende Grundhaltung der Eltern dem Kindergarten und der Schule gegenüber erleichtert die Zusammenarbeit und das Gelingen des Übergangs, weil dies beim Kind Vertrauen schafft. Der Übergang lässt sich auch erleichtern, wenn das Kind vorgängig den neuen Schulweg, das Schulhaus, die Toiletten etc. und die neue Lehrperson kennenlernen kann. In der Regel wird dies durch den Kindergarten und die Schule selbst organisiert. Ein «Gspändli», mit dem man Seite an Seite den ersten Schultag bestreiten kann, erleichtert den Übergang oft ungemein. Beim Schulstart erachte ich es als wichtig, dass die Eltern dem Kind eine Eingewöhnungszeit am neuen Ort zugestehen. Die Kinder sind beim Stufenwechsel emotional gefordert – sie müssen ihren Platz in der neuen Gruppe finden, die noch unbekannten Lehrpersonen kennenlernen, neue Lerninhalte verarbeiten, sich in einer neuen Lernumgebung zurechtfinden etc.

Macht sich diese Veränderung auch zu Hause bemerkbar?

Es ist normal, dass Kinder in dieser Phase zu Hause emotional dünnhäutig reagieren können. Es hilft den Kindern, wenn die Eltern dann selbst die Ruhe bewahren und dem Kind gegenüber Zuversicht und Vertrauen ausstrahlen, dass es diese Veränderungen gut bewältigen wird. Hilfreich ist zudem, wenn zu Hause auf einen geregelten Alltagsrhythmus, ausreichend Schlaf und eine gute Ernährung geachtet wird. Achten Sie auch darauf, ob Ihr Kind das Znüni in der Schule isst oder es vor lauter neuer Eindrücke (unterzuckert) wieder mit nach Hause bringt. Planen Sie genügend Zeit für das freie Spiel daheim ein. Dieses hilft dem Kind, die neuen Eindrücke zu verarbeiten.

Was sollte mein Kind alles können, damit der Start in der Schule glückt?

Die Freude und das Interesse am Entdecken von Neuem sind unser Antrieb fürs Lernen. Das Interesse des Kindes an Zahlen, Buchstaben und schulischen Inhalten ist entsprechend bedeutsam. Die kognitiven Möglichkeiten des Kindes und seine Kompetenzen in der Selbststeuerung sollen es ihm ermöglichen, am Unterricht und im Sozialen teilzunehmen. Im Gegensatz zum Kindergarten erlebt das Kind in der Primarstufe längere Sitzzeiten. Es steht meist deutlich weniger Raum fürs freie Spiel zur Verfügung und das Erlernen der Kulturtechniken ist mitunter anstrengend. Der Schreibablauf der Buchstaben muss beispielsweise (mühsam) erlernt und mittels vieler (langweiliger) Wiederholungen automatisiert werden. Die Stiftführung wird erst mit viel Übung «flüssig». Dies kann frustrieren, wenn viel aufgeschrieben werden möchte, die Hand aber noch nicht tut, was sie sollte. Eine gewisse Frustrationstoleranz und Ausdauer sind daher wichtig. Das Kind sollte auch in der Lage sein, kleine Aufträge selbstständig zu erledigen und sich auf einen Inhalt zu konzentrieren. Natürlich darf es sich dabei auch immer wieder einmal verlieren – dann ist es an der Lehrperson, das Kind in den Lernprozess zurückzuführen. Eine weitgehende Einzelbetreuung sollte aber nicht mehr nötig sein. Im Sprachlichen ist es wichtig, dass das Kind den roten Faden von Erzählungen sicher erfassen kann, damit es die Erklärungen und Anweisungen der Lehrpersonen versteht. Auch sollte es sich verständlich ausdrücken können, damit es sich in der Gruppe und im Unterricht einbringen kann. Im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung wird erwartet, dass das Kind in der Lage ist, sich innerhalb einer sozialen Gruppe angemessen zu bewegen. Für das Rechnen ist das Zahlen- und Mengenvorwissen der Kinder entscheidend. Ein Kind sollte sicher bis 10 zählen, Würfelaugen und kleinere Mengen spontan benennen und Grössen erfassen können (länger / kürzer; schwerer / leichter; mehr / weniger; etc.). Bevor mit dem Rechnen begonnen wird, sollten die Kinder über einen relationalen Zahlenbegriff verfügen. Dies bedeutet, dass das Kind verstanden hat, dass die Zählabfolge immer gleich bleibt (0, 1, 2, 3, …) und die Zahlen eine konkrete Menge beschreiben. («Aha, von der 6 zur 8 fehlt die Menge 2!»).  Die Eltern können diesen Prozess zu Hause ab dem Kleinkindalter unterstützen. (Treppenstufen zählen; Finger / Zehen zählen; Brett- / Würfelspiele machen; beim «Versteckis» laut zählen; etc.).

Viele Kinder freuen sich auf den Schulstart, andere wiederum sind ängstlich und wollen lieber im «Kindsgi» bleiben. Was kann ich da als Elternteil machen?

Den Eltern empfehle ich, das Gefühl des Kindes anzuerkennen. Es ist schön, dass es dem Kind im Kindergarten gefällt und es gerne dortbleiben würde. Und ja, das Ungewisse macht Angst. Reden Sie mit Ihrem Kind über den Schulstart. Welche Vorstellungen bestehen? Was konkret bereitet Sorgen? (Sind es die älteren Kinder? Ist es der Schulweg? Ist es die unbekannte Lehrerin? etc.). Im Gespräch lässt sich möglicherweise herausfinden, welche Aspekte auf Ihr Kind besonders bedrohlich wirken. Überlegen Sie, was Ihrem Kind helfen könnte. Suchen Sie das Gespräch zu den Fachpersonen im Kindergarten, falls keine Entspannung erzielt werden kann. Mit einer guten Vorbereitung des Übergangs lassen sich viele Sorgen beim Kind nehmen.

Gibt es auch Kinder, für welche ein drittes Kindergartenjahr sinnvoll wäre?

Bei Stress, Druck und Überforderung wird unser Entdeckertrieb und damit das Lernen empfindlich gestört. Es ist daher wichtig, dass sich das Kind in der Schule sicher und wohlfühlen kann und man Überforderungen vermeidet. Wenn sich abzeichnet, dass ein Kind aufgrund eines individuellen Entwicklungsrückstands in der ersten Regelklasse überfordert wäre, müssen Schullaufbahnalternativen und unterstützende Massnahmen geprüft werden. Ein drittes Kindergartenjahr empfiehlt sich insbesondere dann, wenn eine Reifethematik als Hauptursache für den Rückstand beim Kind vermutet wird – mit der Erwartung, dass das zusätzliche Jahr Reifezeit ausreichen wird, damit das Kind später den Übertritt und den Schuleinstieg erfolgreich bewältigen kann. Viele Schulgemeinden bieten mit einer Einführungsklasse oder einem Einschulungsjahr eine Möglichkeit für einen sanfteren Schuleinstieg mit einem intensiveren Betreuungsangebot für Kinder, die grundsätzlich schulreif sind, in einzelnen Bereichen aber noch mehr Unterstützung benötigen. Und im Modell der Basisstufe werden die beiden Kindergarten- und ersten zwei Schuljahre der Primarschule zusammengefasst und der Übergang – je nach Entwicklungsstand des Kindes – flexibel gehandhabt.

Welche «Probleme» verflüchtigen sich meist von selbst, wenn die Kinder erst einmal in der Schule sind – und bei welchen ist ein Eingreifen oder «Aktivwerden» besser?

Die Nervosität der Kinder legt sich in der Regel, sobald sie sich in der Schule selbstwirksam erleben und erfahren haben, dass sie sich im Klassenverbund und mit der neuen Lehrperson wohlfühlen und mit den neuen Anforderungen klarkommen. Wenn sich im Verlauf der ersten Wochen beim Kind keine emotionale Entspannung einstellt, empfehle ich den Eltern, das Gespräch mit der Lehrperson zu suchen.

Haben Sie als Abschluss vielleicht noch einen Tipp für all diejenigen Kinder und Eltern, die dem ersten Schultag mit gemischten Gefühlen entgegenblicken?

Gemischte Gefühle beim Kind bei anstehenden Entwicklungsaufgaben sind normal. Das Unbekannte macht nervös. Bei Eltern können Erinnerungen an die eigene Schulzeit auftauchen, welche zu gemischten Gefühlen führen können. Es ist wichtig zu merken, ob die Sorgen von der eigenen Geschichte oder der konkreten Situation des Kindes ausgelöst werden. Fokussieren Sie auf schöne Aspekte des ersten Schultags (zum Beispiel ich sehe meine Freunde wieder) und auf Sachen, die Sie kontrollieren können (beispielsweise: Wir begleiten dich in die Schule; ich koche dir am Mittag dein Lieblingsessen; am Wochenende machen wir einen Ausflug und feiern, dass du nun zu den Grossen gehörst). Eltern, bei denen der anstehende Stufenwechsel vom Kindergarten in die Primarschule grössere Sorgen bereitet, empfehle ich, das Gespräch mit den involvierten Fachpersonen zu suchen. Bei Fragen zur Entwicklung des Kindes können die Schulpsychologischen Dienste als unabhängige und neutrale Fachstellen miteinbezogen werden.