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Damit das Bad der Emotion nicht zum Tauchgang wird

Emotionen beeinflussen uns bereits im Säuglingsalter und werden zum täglichen Begleiter. Doch der Umgang mit Emotionen will gelernt sein. Die Eltern und Erziehungsberechtigte nehmen dabei eine wichtige Vorbildfunktion ein.

Bild: © Brian A Jackson/shutterstock.com

Manuel ist schlecht gelaunt. Als er nach Hause kommt, steht ihm noch eine Menge Arbeit bevor. In der Oberstufe wird die Schraube spürbar angezogen. Mehr Hausaufgaben. Mehr Prüfungen. Und vor allem weniger Freizeit. Mit diesem Druck umzugehen ist für Manuel, der diesen Sommer in die Oberstufe gewechselt hat, nicht einfach. Missmutig hängt er zu Hause herum und kann sich kaum motivieren, mit den Hausaufgaben und dem Lernen zu beginnen. Schon bald überträgt sich die schlechte Laune auch auf die Eltern. Ein Streit scheint vorprogrammiert. Wieder einmal. Gerade die Pubertät ist durch das Erleben intensiver Emotionen gekennzeichnet und sowohl für Jugendliche als auch ihre Eltern mit vielen neuen Herausforderungen verbunden. Jugendliche müssen lernen, mit diesem weitläufig bekannten «Gefühlschaos» umzugehen und Eltern scheinen ihr Erziehungsverhalten in dieser Zeit auf die Stärken und Schwächen ihres Kindes zuzuschneiden. Wie eine Untersuchung von Dr. Nantje Otterpohl, Akademische Rätin an der Justus-Liebig-Universität Giessen am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie, ergeben hat, ist die gegenseitige Einflussnahme in diesem Alter besonders bei Jungen bedeutsam, während sich der Umgang mit den eigenen Emotionen bei Mädchen relativ unabhängig von den Eltern zu entwickeln scheint. «Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass sich Mädchen in diesem Alter bereits stärker an anderen – zum Beispiel ihrer Peergroup – orientieren als Jungs», sagt Nantje Otterpohl.

Langer Prozess mit verschiedenen Etappen

Emotionen wie Freude, Angst, Traurigkeit oder Wut begleiten uns Menschen schon von Kindsbeinen an. Und sie steuern unser tägliches Erleben und Verhalten. Es gehört zu den grossen Herausforderungen, insbesondere auch für Kinder und Jugendliche, im Laufe ihrer Entwicklung mit ihren Emotionen angemessen umzugehen. Dies ist ein wichtiger Prozess, weil Emotionen das Zusammenleben mit anderen Menschen regulieren. So lernen wir über unsere Emotionen, dass nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen können, sondern dass wir unsere Handlungen mit jenen der Menschen um uns herum anpassen müssen. «Mit den eigenen Emotionen und jenen von anderen Menschen umzugehen, ist ein langer Prozess mit verschiedenen Etappen», sagt Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle von Kinderschutz Schweiz. Dabei würde dieser Prozess von verschiedenen Einflüssen beispielsweise vonseiten der Eltern, der anderen Kinder und der Schule geprägt. «Wie ein Kind mit seinen Emotionen zurechtkommt, hängt auch stark von seinem Alter, seinem Temperament und seinem Umfeld ab.». Dank zahlreicher wissenschaftlicher Fortschritte wisse man heute, so Regula Bernhard Hug, viel mehr über die neurologische Entwicklung der Kinder als noch vor zwanzig Jahren.

Alle Emotionen sind erlaubt, aber nicht alle Handlungen

Emotionen bedeuten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene oft eine grosse Herausforderung. Während Kleinkinder bald von ihren Eltern, Grosseltern und anderen Erwachsenen lernen, ihre Emotionen einzusetzen, entwickeln sie ab ca. sechs Jahren die Fähigkeit, mehr und mehr ihre Gefühle selber zu regulieren. «Ab etwa 12 Jahren verbessern die Jugendlichen, was sie bisher von ihren Eltern gelernt haben. Sie gehen somit, was die Regulierung ihrer Emotionen betrifft, zunehmend eigene Wege», klärt Regula Bernhard Hug. In all diesen Prozessen vom Kleinkind bis zum Jugendlichen spiele das Elternhaus eine zentrale Rolle. Denn abgesehen vom persönlichen Temperament des Kindes, seiner kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten ist das Kind auf die Unterstützung und Begleitung seiner Eltern angewiesen. «Selbst wenn uns die Emotionen unserer Kinder irritieren, unsere eigenen Bedürfnisse konkurrenzieren oder uns an unseren erzieherischen Fähigkeiten zweifeln lassen, dürfen sie vom Kind zum Ausdruck gebracht werden können.», sagt die Leiterin der Geschäftsstelle von Kinderschutz Schweiz. Dies bedeute allerdings nicht, alle damit verbundenen Verhaltensweisen zu akzeptieren. Ganz nach dem Motto: «Alle Emotionen sind erlaubt und werden akzeptiert, aber nicht alle Handlungen.»

Eltern als Vorbilder

Wie können Eltern Vorbilder sein, wenn es um den Umgang mit Emotionen geht? Kinder sind bekanntlich gute Beobachter und lernen folglich viel von ihrem Umfeld. Indem die Eltern ihre eigenen Emotionen, Bedürfnisse zum Ausdruck bringen, helfen sie auch dem Kind laut Regula Bernhard Hug, seine eigenen Emotionskompetenzen zu entwickeln. «Die Art, wie die Eltern auf die Emotionen ihrer Kinder reagieren, ist dabei ebenso bedeutend», betont Regula Bernhard Hug. So sei es wichtig, die Emotionen der Kinder zuzulassen und ihre Bedürfnisse zu benennen, ernst zu nehmen und darauf zu reagieren. Oftmals nehme man sich auch nicht die Zeit, den Emotionen auf den Grund zu gehen und zu verstehen, durch was sie ausgelöst wurden. «Wir Erwachsene möchten oft gewisse Situationen möglichst rasch regeln, zum Beispiel einen Streit zwischen Geschwistern», beobachtet Regula Bernhard Hug. Doch: «Faires Streiten will gelernt sein.» Erwachsene haben oft grosse Schwierigkeiten, Wutausbrüche zu ertragen, und wollen diese lauten und manchmal aggressiven Ausdrucksformen so schnell wie möglich beenden. Wut ist eine wertvolle Emotion: Sie zeigt uns, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Einfluss von aussen

Mit zunehmendem Alter übernehmen oft Gleichaltrige und andere Bezugspersonen Einfluss auf die Emotionswelt der Kinder bzw. Jugendlichen – zum Beispiel die Schule. Auch sie sollte ein Ort sein, wo die Kinder ihre Emotionen ausdrücken dürfen, sofern diese nicht beleidigend oder aggressiv gegenüber den Mitschülerinnen und Mitschülern sind. Neben der Erziehung zu Hause und in der Schule unterstützen jegliche Formen von Musik, Kunst und Sport den Ausdruck und Umgang mit Gefühlen beim Kind. «Ein Kind, das gerne zeichnet oder musiziert, drückt vieles aus, während es sein musisches oder sportliches Hobby ausübt.» Der Sport gebe dem Kind einen Rahmen, wo es Gefühle wie Wut, Enttäuschung oder auch Freude auf der körperlichen Ebene verarbeiten kann. Deshalb sei z.B. der Sport und Bewegung gerade auch für kleine Kinder ideal. Später lernen die Kinder, beispielsweise Wut nicht mehr nur körperlich, sondern auch verbal zu äussern. Für ältere Kinder sei das Schreiben auch ein gutes Werkzeug, den eigenen Gefühlen Ausdruck zu geben. Dafür sprechen – so Regula Bernhard Hug – die beliebten Tagebücher während der Jugendzeit.

Vorteil für die Zukunft

Ein Kind, das gelernt hat, mit seinen Emotionen umzugehen und mit seinen Bedürfnissen einzustehen, ist in seinen weiteren Lebensjahren wie auch als Erwachsener in der Lage, Konflikte besser zu lösen, ist Regula Bernhard Hug überzeugt. «Wer als Erwachsener über gute soziale und emotionale Kompetenzen verfügt, hat gute Chancen auf gute Beziehungen mit anderen Menschen, sei es im beruflichen oder privaten Umfeld.»

www.kinderschutz.ch

Buchtipps:

Jan Uwe Rogge, Anselm Grün
So grosse Gefühle! Kinder durch Freude, Zorn und Traurigkeit begleiten
07.10.2020, Gräfe und Unzer Verlag GmbH, 208 Seiten, ISBN  978-3-8338-7309-6, CHF 31.90

Raisa Cacciatore, Erja Korteniemi-Poikela
Starke Kinder haben starke Gefühle
Sisu – Der finnische Weg für eine gelassene Erziehung
02.11.2020, Knaur Taschenbuch, 240 Seiten, ISBN 978-3-426-79098-4, CHF 24.90

Kathrin Hohmann
Gemeinsam durch die Wut
30.04.2021, Verlag edition claus, 252 Seiten, ISBN 978-3-9822643-0-1, CHF 31.90

Schule und Elternhaus Schweiz (S&E)

Eltern eine Stimme geben

Die Anliegen der Eltern vertreten

Als Elternorganisation der deutschsprachigen Schweiz vertritt Schule und Elternhaus Schweiz (S&E) auf nationaler Ebene die Anliegen der Eltern zu Themen rund um die Schule – und dies seit über 60 Jahren. S&E Schweiz fördert zusammen mit den kantonalen, regionalen und lokalen Sektionen die partnerschaftliche Zusammenarbeitzwischen Schule, Behörden und Eltern. S&E ist Patronatgeber des Berufswahl-Portfolios.

www.schule-elternhaus.ch