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Gewalt an Kindern: Es ist eben nicht «nur» der Klaps auf die Finger

War es früher gang und gäbe, dass zu Hause und sogar in der Schule körperliche Strafen eingesetzt wurden, gehören diese Massnahmen der Vergangenheit an – könnte man meinen. Fakt ist: Noch heute wird jedes zwanzigste Kind zu Hause regelmässig körperlich bestraft. Doch wo beginnt die körperliche Massregelung? Und wie können Aussenstehende helfen, wenn sie Alarmsignale wahrnehmen? Regula Bernhard Hug, Leiterin Geschäftsstelle Kinderschutz Schweiz, mit Antworten.  

Bild: © polya_olya/shutterstock.com

Eigentlich würde man meinen, körperliche Strafen gehören im Jahr 2020 endgültig der Vergangenheit an. Dem ist aber nicht so. Die Zahlen schrecken auf: Jedes zwanzigste Kind wird zu Hause regelmässig körperlich bestraft. Was heisst das genau? Ist damit ein Klaps auf die Finger gemeint – oder wo fängt körperliche Gewalt denn genau an?

Körperliche Gewalt besteht gemäss UN-Kinderrechtsausschuss aus zwei zentralen Elementen: Einerseits ist da der Wille, dem Kind Schmerzen zuzufügen. Andererseits kommt die physische Kraft zum Einsatz. An Ihrem Beispiel heisst das im Klartext: Ein sanfter Klaps wird wohl keine Schmerzen auslösen. Ein Schlag mit dem Stock auf die Finger jedoch schon.

Laut einer aktuellen Studie sind nach wie vor jüngere Kinder von Körperstrafen betroffen. 4.4 Prozent der Elternteile gaben an, regelmässig körperliche Gewalt anzuwenden. Welche Situationen sind es, die Eltern die Kontrolle verlieren lassen?

Bei den meisten Eltern, welche Gewalt in der Erziehung anwenden, sind es Überforderungssituationen. Die Auslöser können sehr unterschiedlich sein. Gemeinsam haben diese Eskalationen, dass die Eltern in der Wut und im Frust die Kontrolle über ihre Gefühle und ihr Verhalten verlieren und es ihnen in den meisten Fällen im Nachhinein leidtut.

Die Ergebnisse zeigen jedoch auch, dass es Eltern gibt, für die körperliche Gewalt in der Erziehung dazugehört. Weshalb? Ihnen wird ja ihr Fehlverhalten aufgezeigt?

Im Stress und im Konflikt greifen wir oft auf Muster zurück, die wir selber als Kind gelernt haben. Wie wurden und werden in meiner Ursprungsfamilie Konflikte gelöst? Hat man selber Gewalt erfahren, ist das Risiko höher, ebenfalls Gewalt anzuwenden. In der Eskalation setzt die Vernunft aus, die Emotionen übernehmen das Ruder. Dort setzt unsere Kampagne «Starke Ideen, es gibt immer eine Alternative zu Gewalt» an. Was passiert, wenn wir trotz der aufsteigenden Wut, beispielsweise das Zimmer genügend früh gewechselt haben?

Wie kann einer Familie geholfen werden? Gerade in Pandemiezeiten dürfte sich ja die Lage nicht gerade entspannen…

Die Studie hat gezeigt, dass vor allem Bestrafungen mit psychischer Gewalt oft durch die äusseren Umstände einer Familie begünstigt werden. Also Umstände wie finanzielle Sorgen, grundsätzliche Überforderung und mentaler Stress – alles natürlich verstärkt durch die Corona-Pandemie. Behörden können helfen, indem sie Oasen und Entlastungsmöglichkeiten für Familien offenhalten – sprich Schulen und Kitas. Enge Raumverhältnisse sollten verhindert und das Austoben der Eltern und Kinder an der frischen Luft ermöglicht werden – auch in der Quarantäne, einfach unter Einhaltung von Schutzmassnahmen. Die Arbeitgeber können helfen, indem sie auf die Zusatzbelastung im Homeoffice wegen gleichzeitiger Kinderbetreuung gelassen und verständnisvoll reagieren. Nachbarn können den Betroffenen unter die Arme greifen, indem sie beispielsweise die Einkäufe erledigen.

Was macht die körperliche Gewalt mit den Kindern? Klar, einerseits sind da die Verletzungen. Wie sieht es im Hinblick auf das psychische Wohlbefinden und die Langzeitfolgen aus?

Schläge oder andere Formen der körperlichen Bestrafung untergraben das kindliche Vertrauen in seine Eltern und wirken sich in vielfältiger Weise negativ auf seine emotionale und soziale Entwicklung aus. Das Erleben körperlicher oder anderer Formen von Gewalt verletzt das Kind in seiner Würde und vermittelt ihm, dass Gewalt ein angemessenes Mittel zur Lösung von Konflikten ist. Ein Kind, das Gewalt erlebt, weist deshalb ein höheres Risiko auf, im Jugend- und Erwachsenenalter selbst Gewalt auszuüben.

Was erhoffen Sie sich von der Politik zum Thema? Ein wichtiges Postulat ist ja dasjenige der Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach.

Erziehung ist Privatsache, Gewalt an Kindern nicht. Wir wollen, dass wir uns als ganze Gesellschaft darauf einigen, dass eine gewaltlose Erziehung «normal» ist. In der Schweiz regeln wir den Umgang miteinander im Zivilgesetzbuch. Wir wollen, dass wir dort festhalten, dass wir unsere Kinder «normalerweise» gewaltfrei erziehen. Dies ist insbesondere für diejenigen Eltern wichtig, welche immer noch meinen, dass psychische und physische Schmerzen bei einer Bestrafung sein müssen und Gewalt in der Erziehung legitim ist.

Wie sollte sich das Umfeld verhalten, wenn der Verdacht besteht, dass ein Kind körperliche Bestrafung erhält?

  • Sofort handeln ist dann sinnvoll, wenn es sich um einen akuten Notfall handelt (z. B., wenn das Kind offenkundig stark bedroht wird): Rufen Sie in diesem Fall den Notruf (112) oder die Polizei (117).
  • Sie können sich bei einem Verdacht oder als Mitwisserin oder Mitwisser von einer Beratungsstelle unterstützen lassen. Hier finden Sie hilfreiche Notfalladressen und Beratungsstellen (siehe Feel ok)
  • Häusliche Gewalt ist keine Privatsache. Auch hier gilt: Lieber einmal zu viel etwas unternehmen, als einmal zu wenig.
  • Ein offenes Ohr anbieten: Bleiben Sie in Kontakt mit den Betroffenen.