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Bunte Pflaster für die Kinderseele

«Märchen sind mehr als wahr. Nicht, weil sie uns sagen, dass es Drachen gibt. Sondern weil sie uns sagen, dass Drachen besiegt werden können.» Dieses Zitat des englischen Schriftstellers G. K. Chesterton bringt es auf den Punkt: Geschichten eignen sich hervorragend, um an versteckte Ängste oder Sorgen heranzuführen und um Wege aufzuzeigen, wie diese Themen gelöst werden können. Kinder sind besonders empfänglich für die indirekten Botschaften in Märchen und Geschichten.

Bild: popcorner/Shutterstock

Je näher eine Geschichte an die kindliche Erfahrungswelt heranrückt, umso authentischer wird sie für das Kind. Es schlüpft förmlich in die Haut der Heldin oder des Helden, leidet und kämpft mit ihnen, erkennt sich selbst in den geschilderten Schwächen und Stärken. Und nicht zuletzt geht es Seite an Seite mit ihnen als Sieger hervor. Die Geschichte hat dem Kind bewiesen, wie wertvoll auch unangenehme Erfahrungen sein können. Sie hat ihm gezeigt, dass sich Mut und (Selbst-)Vertrauen auszahlen und dass es wichtig ist, sich für seine Ziele einzusetzen. Kurzum – es ist wieder ein beträchtliches Stück resilienter geworden.

Resilienz – ein Wort, das derzeit in aller Munde ist. Es beschreibt die Anpassungsfähigkeit, mit der wir Menschen auf sich verändernde Situationen reagieren. Hohe Resilienz – wir passen uns geschmeidig an die Veränderungen an und fliessen sozusagen mit dem Fluss der Zeit. Wenig Resilienz – wir sträuben uns gegen Veränderungen und leiden darunter, dass nichts bleibt, wie es ist. Nun die gute Nachricht: Unser Grad an Resilienz ist nicht «gottgegeben» und kann trainiert werden. Besonders für unsere Jüngsten kann es einen Riesenvorteil mit sich bringen, sie in ihrer Resilienz zu stärken. Hierzu ist es hilfreich, sich mit den auch aus der Kinder-Pädagogik bekannten «Sieben Säulen der Resilienz» zu befassen:

  1. Optimismus: Mit kleinen, notorischen Schwarzsehern lässt sich eine positive Grundeinstellung trainieren, indem wir sie konsequent darauf aufmerksam machen, dass jedes Problem vorübergehend und lösbar ist. Und dass sie danach um eine Erfahrung reicher sind.
  2. Akzeptanz: Hier können wir die Kinder unterstützen, indem wir deutlich machen, wie viel Kraft und Energie verschwendet wird, wenn sie sich gegen eine Situation wehren, die sich nun mal nicht ändern lässt. Zudem stärkt es sie für ihr ganzes späteres Leben, wenn sie gleichzeitig lernen zu unterscheiden, was tatsächlich unabänderlich ist und was nicht.
  3. Lösungsorientierung: Es kann grossen Spass machen, gemeinsam mit Kindern aktiv nach Lösungen zu suchen. Lassen Sie dabei auch die verrücktesten Einfälle zu – manchmal ergibt sich gerade durch diese Unbedarftheit ein besonders kreativer Lösungsweg.
  4. Verantwortung: Passend zur Suche nach Lösungen kann das Gespräch dann mit einfachen Fragen auf das Thema Verantwortung gelenkt werden, z. B. «Was denkst du, was könnte passieren, wenn du dich so verhältst, wie gerade von dir vorgeschlagen?»
  5. Beziehungen: Wer als Kind ein «offenes Haus» erlebt, in dem kleine wie grosse Gäste gerne ein- und aus gehen, wird wohl auch in späteren Jahren wesentlich leichter soziale Beziehungen aufbauen. Turbulente Geburtstagspartys machen oft viel Arbeit, aber sie gewähren auch wertvolle Einblicke in den Freundeskreis der Kinder.
  6. Zukunftsplanung, Zielsetzung, Zielerreichung: «Was meinst du – wer bist du jetzt? Und wer oder was könntest du später mal sein?» Diese zwei harmlos daherkommenden Fragen können Welten öffnen – sowohl für die Kinder als auch für die aufrichtig an Antworten interessierten Erwachsenen. Von der Frage über die nahe oder ferne Zukunftsplanung lässt sich dann ganz einfach wieder einen Schritt zurücktreten, um hier mehr Orientierung und Motivation geben zu können. Zum Beispiel: «Aha, du möchtest also gern beim Klassenrat dabei sein … Was denkst du denn, was man da so alles macht?»
  7. Selbstreflexion: Bleiben wir mal bei dem vorherigen Beispiel. Das Kind hat die Vorstellung, im Klassenrat zu sein oder Klassensprecher zu werden, und hat aufgezählt, was seiner Meinung nach alles dazugehört. Jetzt können Sie noch tiefer nachfragen: «Super, du kennst dich ja richtig aus! Sind denn da auch Sachen dabei, die du schon jetzt gut kannst?» Anhand der Antworten Ihres Kindes werden Sie feststellen, ob Selbst- und Fremdwahrnehmung übereinstimmen. Falls Sie den Eindruck haben, hier liegt ein bisschen Selbstüberschätzung vor, sprechen Sie die kritischen Punkte einfach liebevoll an: «Prima, das ist doch eine Menge! Das ein oder andere könntest du noch ein bisschen üben, z. B. dich beim Fussball nicht so arg aufzuregen, wenn ihr verliert, sondern auch mal den anderen zu gratulieren, wenn sie toll gespielt haben. Und falls du es dieses Schuljahr nicht schaffst, dann vielleicht im nächsten. Auf alle Fälle ist es ein tolles Ziel, und du kannst bis dahin eine Menge lernen!»

Vielleicht hat das Kind sein Ziel erreicht und ist jetzt im Klassenrat bzw. Klassensprecherin oder Klassensprecher. Nun kommt vielleicht doch ein bisschen Bammel auf, ob es dieser Aufgabe gewachsen ist. Mit dieser kleinen/grossen Sorge plagt es sich ziemlich herum und mit einem lapidaren «Du schaffst das schon!» würde sich ein Kind jetzt eher allein gelassen als ermutigt fühlen. Womit wir wieder beim Geschichten-Erzählen wären. Denn hier bietet sich die ideale Möglichkeit, um ein Kind in seiner Sorge aufzufangen, es verständnisvoll zu begleiten und in seiner Wirkkraft zu bestärken.

Gute Ideen für heilsame Geschichten

Aber woher sollen diese Ideen so plötzlich kommen? Das ist einfacher als gedacht – steckt doch das ganze Leben voller grossartiger Anregungen! Falls Ihnen selber keine passende Idee kommt, machen Sie einfach eine kleine Anleihe bei den Klassikern. Erzählen Sie, wie es z. B. Simba trotz vieler Hindernisse möglich war, ein richtig guter König der Löwen zu werden. Oder wie die Räubertochter Ronja es immer wieder geschafft hat, auch bei den grössten Streitereien ihre Meinung zu vertreten und dann sogar die verfeindeten Räuberbanden wieder friedlich zu vereinen.
Vielleicht hat es aber auch nicht geklappt. So könnte es sein, ihre Tochter kommt mit gesenktem Kopf nach Hause und ist sichtlich enttäuscht. Ein schnelles «Kopf hoch – nur nicht aufgeben!» wäre jetzt wenig tröstlich. Nehmen Sie sich die Zeit und lassen Sie Ihr Kind erst einmal berichten. Dabei merken Sie recht schnell, was Ihre Tochter am meisten gekränkt hat. Hat ihr die Unterstützung aus dem Kreis der Mitschüler gefehlt? Fühlte sie sich nicht gesehen, leidet sie unter Schüchternheit? Was auch immer es ist, Ihr anteilnehmendes Zuhören ist der grösste Trost, den Sie jetzt schenken können. Bis zum Schlafengehen fällt Ihnen dann vielleicht eine Situation ein, die Sie selbst einmal erlebt hatten, von der Sie im Freundes- oder Verwandtenkreis gehört haben oder von der Sie irgendwo gelesen haben. Eine Situation mit einer ähnlichen Problematik, mit einigen Hindernissen, vielleicht sogar mit wundersamen Fügungen und in jedem Fall mit einem glücklichen Ende. Spinnen Sie daraus eine Geschichte, die Ihrem Kind hilft, seine Erlebnisse besser zu verarbeiten, ruhig einzuschlafen – und wieder ein Stückchen resilienter aufzuwachen.

Jeder Tag erzählt neue Geschichten

Vielleicht denken Sie jetzt: «Geschichten erzählen – das ist echt nicht meins!» Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen widerspreche! Denn schliesslich erzählen wir uns doch alle jeden Tag Geschichten. Manchmal nur in unserem Kopf, manchmal tauschen wir uns mit der Familie, mit Freunden oder Kollegen aus. Fast immer geht es um das echte Leben. Leider verharren wir meist viel zu sehr bei den Problemen, statt uns möglichst rasch nach Lösungswegen umzusehen. Aber das ist reine Übungssache. Beobachten Sie Ihr Umfeld, fügen Sie dann noch eine gute Prise Humor und Situationskomik hinzu – und schon ist der Geschichtencocktail gemixt, mit dem Sie andere bestens unterhalten und ermutigen können. Falls immer noch Zweifel bestehen, gönnen Sie sich einfach mal ein Wochenende, um die Technik des Storytellings zu erlernen. Gleichzeitig werden Sie dabei vielleicht sogar selbst erleben, wie heilsam eine spannend und liebevoll vorgetragene Geschichte für Klein und Gross sein kann.