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Böse digitale Welt

Die armen Kinder. Sitzen am Handy, statt im Wald zu spielen. Starren auf einen Bildschirm, statt auf Bäume zu klettern. Früher war alles besser. Und die neue Generation ist dem Untergang geweiht. Das hören wir täglich. Aber stimmt es auch?

Bild: © Olga Nikiforova / Shutterstock.com

Wir alle wollen nie so werden wie unsere Eltern, wenn wir Kinder sind. Wir werden aber so, unweigerlich, in vielen Belangen. Der Prozess des Erwachsenwerdens bringt es mit sich, dass sich Perspektiven verschieben. Anderes zählt, und es unterscheidet sich kaum von dem, was unseren Vorfahren wichtig war. Und deshalb ist auch jede Generation überzeugt, dass früher alles besser war und das, was unsere Zöglinge so treiben, doch eigentlich nicht richtig sein kann.

Das Wissen der ganzen Welt

Wer glaubt, dass der Einzug der Digitalisierung in diesem Prozess eine neue Stufe bedeutet, der irrt sich. Meine Eltern starrten völlig entgeistert auf diesen klobigen Commodore 128D, der in meinem Zimmer stand und wertvolle Hausaufgabenzeit klaute, weil ich lieber mit völlig verpixelten Männchen durch Sprünge goldene Münzen sammelte. Das kannten sie nicht aus ihrer Kindheit. Inzwischen ist das Gerät, das damals State of the Art war, ein Fall fürs Museum – oder den Elektroschrott. Die heutigen Geräte passen auf eine Handfläche und vereinen das Wissen der gesamten Welt, abrufbar mit einem Fingertippen.

Furchtbar, sagen viele Leute. Die Kinder spielen nicht mehr richtig. Sie schauen sich Youtube-Videos von durchgeknallten Influencern an. Sie konsultieren Google und Wikipedia, statt das richtige Buch in der Bibliothek zu suchen oder selbst nachzudenken. Aus einer solchen Generation kann nie etwas werden.

Segen, kein Fluch

Dazu zwei Dinge. Erstens: Ich hätte als Jugendlicher sehr viel dafür getan, diese Möglichkeiten zu haben. Die Vorstellung, jederzeit in eine völlig neue Welt abzutauchen, ist grenzenlos faszinierend. Die Menschheit würde heute noch in Höhlen wohnen, wenn uns dieser Wunsch nicht antreiben würde. Und zweitens: Information ist Freiheit. Die Digitalisierung hat es in der Hand, der ganzen Menschheit Zugang zum Wissen der heutigen Zeit zu verschaffen. Das ist ein Quantensprung in der Entwicklung. Die Digitalisierung ist ein Segen, kein Fluch. Generell gesprochen jedenfalls.

Natürlich bleiben mit Blick auf die Kinder viele Fragen offen. Wann sind sie bereit für die Flut an Wissen, aber auch an Unterhaltung, Blödsinn und tendenziell gefährdenden Inhalten, die hier bereitstehen? Wie viel davon darf man ihnen in welchem Alter zumuten? Damit müssen sich Eltern auseinandersetzen und das steuern. Aber diese Fragen sind nicht neu. Es gab sie schon immer. Wann darf das Kind die Karotte mit dem scharfen Messer selbst schneiden? Wann darf es selbst in den Dorfladen, um Milch zu holen? Wann darf es bei einem Schulkollegen übernachten? Wir stehen dauernd vor solchen Entscheidungen, die Digitalisierung ist diesbezüglich nichts Neues.

Und wie halten wir es meistens bei solchen Entscheidungen? Sobald wir glauben, dass die Zeit reif ist, ermutigen wir das Kind. Wir wollen ihm helfen, eigene Erfahrungen zu machen, Selbstbewusstsein zu tanken, Erfolgserlebnisse zu feiern. Also lassen wir es irgendwann die Milch holen und auswärts übernachten. Sobald es um digitale Medien geht, siegt aber die Angst. Aus einem einfachen Grund: Eltern sind nicht damit aufgewachsen, für sie ist die Digitalisierung oft selbst Neuland. Und weil wir uns nicht gut damit auskennen, trauen wir es den Kindern auch nicht zu. Die alte Regel von der möglichst langen Leine, auch auf die Gefahr hin, dass unsere Lieblinge mal auf die Nase fallen, gilt plötzlich nicht mehr. Dabei lernen Kinder bekanntlich aus Fehlschlägen am meisten.

Verhältnismässigkeit

Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich liegt eine Gefahr in digitalen Kommunikationsmitteln. Natürlich können unsere Kinder plötzlich in einem Chat an den Falschen geraten, der Böses will. Aber wir haben bei dieser Frage die Verhältnismässigkeit verloren. Die Gefahr, dass ein Kind auf dem Schulweg von einem Auto angefahren wird, ist um ein Vielfaches höher – aber schwitzen wir täglich Blut, kaum hat das Kind das Haus verlassen? Die unzähligen Präventionsmassnahmen von Medienexperten in Ehren, aber letztlich haben sie inzwischen zu einer Hysterie geführt. Hinter jedem Klick wartet das nackte Grauen, scheinen sich viele Eltern zu denken.

Das Zauberwort heisst Befähigung. Wer seinem Kind im richtigen Alter (das individuell zu bestimmen ist) den Zugang zu digitalen Medien eröffnet, es gleichzeitig über Chancen und Gefahren informiert, punktuell begleitet, ihm vor allem aber auch Vertrauen schenkt, der ist sehr viel sicherer als Eltern, die versuchen, das «Böse» auszusperren. Es ist auch eine ziemlich verrückte Idee, Kinder so lange wie möglich von digitalen Instrumenten fernzuhalten. Denn Schule und Arbeitswelt werden immer digitaler, ob wir es wollen oder nicht. Es ist, als würde man sein Kind möglichst lange von Buchstaben abschirmen – und dann muss es mit einem Mal fliessend lesen können.

Entspannung ist angesagt. Und ein Perspektivenwechsel. Wer zuerst das Positive sieht und erst dann mögliche Gefahren, geht ganz anders um mit der neuen digitalen Welt. Wer es umgekehrt macht, verbaut sich – und seinen Kindern – die Chance, die Möglichkeiten zu nutzen, die in den neuen Medien liegen. Und die sind gewaltig.

Zurück zum Wald, den angeblich kaum mehr ein Kind kennt. Das haben wir als Eltern selbst in der Hand. Niemand hindert uns daran, Kindern die Natur zu zeigen, ihnen abseits von Bildschirmen die Welt zu präsentieren. Manchmal wollen wir vielleicht nicht, weil wir gerade selbst am Smartphone hängen