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„Madame du sexe“ eckt an

Sexualkunde im Kindergarten: Was für die einen nur logisch und ein Stück weit Prävention ist, ist für die anderen eine unnötige und zu frühe Sexualisierung von kleinen Kindern. Rendez-vous mit „Madame du sexe“ in einem Kindergarten unweit von Sitten.

Bild: © Shutterstock

Auf einmal ist die Spannung mit Händen zu greifen. „Welche Puppe ist ein Mädchen, welche ein Bub?“, fragt Edith Schupbach in 16 erwartungsvolle Kindergesichter. Wir befinden uns im Kindergarten von Uvrier, einem Vorort von Sitten. Vor dem Fenster wirbelt der Föhnwind Blätter und Geäst über den Schulhof; ab und an donnert eine F/A-18 im Anflug auf den Militärflugplatz von Sitten über das Schulhaus hinweg.

Nackte Puppen

Heute ist ein besonderer Tag für die fünf bis sechsjährigen Knirpse. Sie haben Besuch von einer Sexualpädagogin erhalten; „éducation sexuelle“ steht auf dem Stundenplan. „Madame du sexe“, wie Schupbach von den Kindern genannt wird, hat mit ihnen bereits über Gefühle wie Scham, Freude, Zorn und Angst sowie über gute und schlechte Geheimnisse gesprochen. Nun geht es anhand der Puppen erstmals „ans Lebendige. Die meisten zucken auf Schupbachs Frage nach deren Geschlecht mit den Schultern. Vor ihnen auf dem Boden sitzen zwei identische Baby-Puppen, die in Windeln gewickelt sind. „Wir müssen die Windeln ausziehen“, schlägt Dorian schliesslich vor. Gesagt, getan. Nervöses Kichern setzt ein. Als darunter ein Mini-Penis zum Vorschein kommt, schwillt das Gekicher kurzfristig an. Und wieder lachen die Kinder, sobald Schupbach bei der zweiten Puppe die Schamlippen entblösst. Natürlich wissen die meisten zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass die Geschlechtsteile so genannt werden. In der nächsten Viertelstunde werden sie erstmals mit den Begriffen „Penis“ und „Vagina“, „Hoden“, „Schamlippen“ und „Erektion“ konfrontiert. Die Buben lernen, dass sie sich nicht schämen müssen, wenn ihr Penis einmal hart werde. Dies bedeute, dass sie bei guter Gesundheit seien, sagt Schupbach. Die Kinder erfahren auch, dass Mädchen zwischen den Beinen eine Öffnung extra für Babys haben. Vor allem aber wird ihnen erklärt, dass diese Körperteile privat sind. „Niemand darf euch dort berühren oder euch dazu zwingen, euch selbst zu berühren“, sagt Schupbach. Die 45-jährige Krankenschwester ist eine von neun Sexualpädagoginnen – auf Französisch „éducatrice en santé sexuelle“ genannt -, die im Kanton Wallis Sexualkunde unterrichten. Sie hat ihren Titel in einer zweijährigen berufsbegleitenden Fortbildung erworben.

Ein neuer Röstigraben

Ab der vierten Klasse und bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit besuchen alle Walliser Schüler insgesamt mindestens neun Lektionen in Sexualkunde. Der Unterricht ist grundsätzlich obligatorisch, doch können die Eltern ihr Kind dispensieren, was allerdings höchst selten vorkommt. Im französischsprachigen Kantonsteil kommen zusätzlich zwei Lektionen im zweiten Kindergarten hinzu, wobei dort der Fokus vor allem auf der Prävention von Missbräuchen und dem Kennenlernen des eigenen Körpers liegt. Im deutschsprachigen Wallis wird auf den Besuch der Sexualpädagogin im Kindergarten verzichtet. Die unterschiedliche Praxis innerhalb des gleichen Kantons verdeutlicht eine Trennlinie, die sich durch die gesamte Schweiz zieht: Während Sexualkunde in der Westschweiz seit über 40 Jahren und fast überall bereits im Kindergarten unterrichtet wird, steht sie in der Deutschschweizm abgesehen von wenigen Ausnahmen, erst ab der Mittelstufe auf dem Stundenplan – wenn überhaupt. Pilotversuche, zum Beispiel in Basel, Sexualunterricht auf den Kindergarten auszuweiten, riefen denn auch den Widerstand von konservativen Kreisen (vor allem der SVP und der CVP) hervor, die eine eidgenössische Volksinitiative zum „Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule“ lancierten.

Vorbehalte vor allem Deutschweizer Natur

Am 17. 2012 Dezember ist das Begehren nach erfolgreicher Unterschriftensammlung bei der Bundeskanzlei eingereicht worden. Zwar gehören dem Initiativkomitee auch Romands an – unter anderem der Walliser SVP-Staatsrat Oskar Freysinger -, doch sind die Vorbehalte in erster Linie Deutschschweizer Natur. Die Initiative verlangt, dass Sexualunterricht frühestens ab dem vollendeten 9. Lebensjahr und aus schliesslich von den Klassenlehrern erteilt wird. Ferner müsse der Unterricht freiwillig sein, fordern die Initianten. Sexualerziehung sei Sache der Eltern. Die Prävention von Kindsmissbrauch darf gemäss Initiativtext zwar bereits im Kindergarten thematisiert werden – allerdings, ohne dass dabei auf sexualkundlichen Inhalt zurückgegriffen wird. Laut Dominik Müggler vom Initiativkomitee heisst dies, dass den Kindern zum Beispiel keine Werturteile vermittelt werden dürfen. „Sie sollen im Kindergarten nicht Begriffe wie bisexuell, transsexuell, heterosexuell und homosexuell lernen müssen“, sagt er auf Anfrage. Als Lehrpersonen für einen solchen Präventionsunterricht schlägt Müggler, Vater von fünf Kindern, den Dorfpolizisten, den Pfarrer, den Dorfarzt oder die Kindergärtnerin selbst vor.

Was heisst Sexualisierung?

In der Westschweiz sieht man der Volksabstimmung mit gemischten Gefühlen entgegen. Findet sie eine Mehrheit in der Bevölkerung, wirft sie eine Praxis über den Haufen, die während Jahrzehnten kaum je zu Diskussionen Anlass gab. Gilberte Voide von der Schweizerischen Stiftung für sexuelle und reproduktive Gesundheit ist der Meinung, dass sich die Initiative in der Romandie kaum umsetzen liesse. Schliesslich kämen an den Schulen ausschliesslich externe Fachpersonen zum Einsatz, was die Initiative verunmöglichen will. Voide ist bei „Sexuelle Gesundheit Schweiz“ für den Bereich Bildung zuständig und setzt sich unter anderem dafür ein, dass Sexualunterricht im Lehrplan verankert wird. Für sie ist die Initiative Ausdruck einer auf die Biologie reduzierten Wahrnehmung des Themas Sexualität, bei der die psychologische und affektive Dimension bereits als „Sexualisierung“ aufgefasst wird. Sie kann der Initiative aber auch etwas Gutes abgewinnen: „Immerhin können wir so einer breiten Öffentlichkeit erklären, wie wir arbeiten, und falsche Vorstellungen berichtigen.“ Auch Edith Schupbach glaubt, dass sich die meisten Kritiker überzeugen liessen, wenn sie eine Unterrichtsstunde besuchen würden. „Viele Vorurteile erklären sich mit Unwissen“, sagt sie. So gehe es etwa keineswegs darum, die Rolle der Eltern zu übernehmen. Die Hoheit über die Sexualerziehung liege bei den Erziehungsberechtigten. „Unser Angebot ist lediglich als Ergänzung gedacht.“ Die Volksschule sei indes der einzige Ort, an dem jedes Kind – egal welcher Herkunft, Religionszugehörigkeit oder Bildungsschicht – erreicht werden könne.

Wahl zwischen Gott und Jesus

Die Stunde in Uvrier ist inzwischen schon fast vorüber; zusehends unruhig rutschen die Kinder auf dem grünen Linoleumboden herum. Bevor Schupbach die Schar in den Nachmittag entlässt, bittet sie jedes Kind, die Augen zu schliessen und an eine erwachsene Person zu denken, der es ein „schlechtes Geheimnis“ anvertrauen könne. Die Übung soll helfen, dass im Ernstfall die richtigen Reflexe aktiviert werden. Die meisten nennen die Mutter oder den Vater, einige auch die Grossmutter oder den Götti. Gwenaël aber, ein vorwitziger Knirps mit kurzen braunen Haaren, schlägt „Gott“ vor. Das sei eine gute Idee, antwortet Edith Schupbach, doch er solle zusätzlich an eine lebende erwachsene Person denken. Gwenaël überlegt lange – schliesslich nennt er  „Jesus“ als seine Vertrauensperson. Dieser Text von Andrea Kucera ist eine aktualierte Version des NZZ-Artikels vom 5. April 2013.

Buchtipps
  • „Mein erstes Aufklärungsbuch“: Dieses schön illustrierte Buch hilft, mit Kindern ab 5 Jahren ehrlich, offen und altersgerecht über Sexualität und Emotionen zu sprechen; von Dagmar Geisler, Loewe Verlag, Fr. 16.90, ISBN 978-3-7855-7478-2.
  • „Wachsen und erwachsen werden“: Ein Aufklärungsbuch für Kinder, in welchem sie unkompliziert Antworten auf ihre Fragen über Mädchen und Jungen, Körper und Gefühle, Liebe, Sexualität, Schwangerschaft und Geburt, Wachsen und Erwachsenwerden, bekommen. Für Eltern eine Chance, über das Thema Aufklärung gelassen und humorvoll mit ihrem Kind zu sprechen; von Sabine Thor-Wiedemann und Birgit Rieger, Ravensburger Buchverlag, Fr. 25.90, ISBN 978-3-473-35861-8.