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Wenn Mami dem Alkohol verfallen ist

Im Buch «Mein Name ist Julia» erzählt die Autorin Julia Keller ihre Lebensgeschichte. Eine Geschichte, die berührt, denn ihre Mutter war suchtkrank. Welche Erinnerungen sie an ihre Kindheit hat und wie sie die Erlebnisse geprägt haben, verrät sie im Interview.

Bild:©dan.nikonov/shutterstock.com

«Mein Name ist Julia» ist ein sehr persönliches Buch. Eigentlich ist es bereits im vergangenen Jahr erschienen. Mit welchen Gefühlen haben Sie der Herausgabe entgegengeblickt?

Gerade weil das Buch so persönlich ist, war und ist es für mich immer noch eine grosse Herausforderung. Ich wusste nicht, wie das Buch bei der Leserschaft ankommen wird und musste mich darum auf mein Gefühl verlassen. Einerseits hatte ich eine Riesenangst davor, irgendwo auch zu versagen, weil das Buch vielleicht nicht verstanden wird. Anderseits hatte ich gar keine Wahl, weil die Stimmen in mir endlich gehört werden wollten. Inzwischen habe ich gelernt, auf meine Intuition zu hören und bin sehr froh darüber, dass ich den Schritt mit der Veröffentlichung des Buchs gegangen bin.

Ihre Mutter war alkoholkrank, die Sucht dominierte Ihre Kindheit. Welche Erinnerung haben Sie an diese Zeit?

Ich war ein sehr anpassungsfähiges Kind und ich wollte gefallen. Wie jedes andere Kind wollte und brauchte ich die Liebe meiner Eltern, doch die habe ich durch die Alkoholabhängigkeit meiner Mutter nur bedingt bekommen. Sie war nicht der mütterliche Typ. Damit meine ich, dass sie uns nicht umsorgt hat, zum Beispiel Brötchen für den Znüni gestrichen oder mit uns am Mittwochnachmittag etwas unternommen hat. Im Gegenteil, ich kann mich an kein einziges Mal daran erinnern, dass sie mir ein Buch vorgelesen oder mit mir ein Spiel gespielt hat. Mit meinem Vater hingegen habe ich am Sonntag öfters Karten gespielt oder wir waren Ski gefahren. Für meine Schwester und mich war immer klar, dass meine Mutter für solche Sachen nicht zu haben ist. Sie brauchte viel Zeit für sich und ihre Süchte. Sie las und philosophierte gerne, rauchte unentwegt ihre Zigaretten – und in dieser Welt hatten wir einfach nichts zu suchen. Sie ging nicht auf unsere kindlichen Bedürfnisse ein und wir wagten nicht, diese einzufordern. Meine Mutter war mir zudem oft peinlich. Sie war so anders als andere Mütter. Dies spürte ich nicht erst in der Pubertät. Dort ist es ja ein Stück weit normal. Nein, ich spürte, dass bei uns in der Familie etwas nicht stimmte. Ich habe mich häufig für sie geschämt und somit war auch ich oft beschämt.

Worunter haben Sie am meisten gelitten?

Dass meine Eltern oft und heftig gestritten haben und dass meine Mutter so anders war als die anderen Mütter. Was ich erst viel später begriffen habe: Ich habe immer gefühlt, dass mit meiner Mutter etwas nicht stimmt. Doch da meine ganze Kindheit über niemals das Wort Alkoholikerin gefallen ist, hatte ich keinen Namen für die Situation in unserer Familie. Daran kaue ich heute noch, weil ich als erwachsene Frau natürlich weiss, was es bedeutet. Aber als Kind war ich der Situation ausgeliefert und habe daher nie die nötige Unterstützung erhalten. Ich fühlte mich oft nicht liebenswert und musste mich sehr für die Aufmerksamkeit meiner Eltern anstrengen. Mein Vater hat tagsüber gearbeitet und war auch oft am Samstag im Büro. Manchmal war ich sehr zornig und fühlte mich unglaublich verlassen. Ich kann mich an viele Stunden erinnern, in denen ich heftig geweint habe. Ich bekam davon starke Kopfschmerzen und musste so heftig schluchzen, dass ich kaum sprechen konnte.

In wie weit haben Sie Ihre Kindheitserlebnisse im Erwachsenenalter geprägt?

Sehr stark. Es ist unglaublich, wie viele Denkmuster und Angewohnheiten man aus der Kindheit ins Erwachsenenalter übernimmt. Es ist beinahe so, als würde das Kind in der erwachsenen Person weiterleben und fühlen. Daher ist es unglaublich wichtig, dass man Kindern von suchtgefährdeten Eltern erklärt, dass sie sich nicht für ihre Eltern verantwortlich fühlen oder schämen müssen und dass nichts an der Situation ihre Schuld ist. Denn genau dies passiert: Die Kinder fühlen sich schuldig und das ist ein furchtbar belastendes Gefühl.

Ich habe mich schon als kleines Kind für meine Mutter verantwortlich gefühlt und fühle mich auch heute noch ständig für alles verantwortlich. STOPP –  ich habe mich lange Zeit verantwortlich gefühlt, denn ich ändere das gerade. Meine kleine Julia wird jetzt mit mir gemeinsam erwachsen.

Wie sah das im Alltag aus?

Meine Mutter ging beispielsweise nicht gerne zum Zahnarzt. Sie musste aber relativ oft dahin wegen ihrer schlechten Zähne, herbeigeführt durch ihren Lebenswandel. Ich musste ihr bei den Behandlungen die Hand halten. Das ist jedoch nicht die Idee, dass ein Kind der Mutter Beistand leisten muss. Weil meine Mutter einerseits so bedürftig war und eine Rollenumkehr stattfand, war ich ein äusserst tapferes kleines Mädchen. Ich habe als Kind niemals jemandem von unseren Familienproblemen erzählt. Hier geht es um seelischen Missbrauch und der wiegt schwer. Nach aussen war ich viele Jahre eine energiegeladene und gut funktionierende Familienfrau, doch in mir drin war ich sehr traurig.

Sie sind selber Mutter. Hat sich Ihre Sichtweise auf Ihre Mutter dadurch verändert?

Ja, aber vielleicht nicht auf die Art und Weise, die man jetzt erwartet. Ich habe nicht unbedingt mehr Verständnis für meine Mutter bekommen. Durch das Muttersein habe ich gemerkt, wie viel Geborgenheit und Sicherheit mir gefehlt hat und dass ich so nicht zu einer psychisch gesunden jungen Frau heranwachsen konnte. Ich hatte lange Zeit einen geringen Selbstwert.

Wie haben Sie den Mut aufgebracht, Ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben?

Ich hab’s einfach gemacht, nicht jahrelang davon gesprochen, sondern einfach getan! Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich über all die Jahre Gedichte geschrieben und auch gemalt habe. So musste ich eigentlich nur noch das Material sammeln, teilweise überarbeiten und zu einem Buch binden. Die Arbeit hat mir Freude bereitet und sie hat mich emotional immer wieder bewegt. Ich konnte der kleinen Julia sozusagen beim Wachsen zuschauen.

Die Sucht Ihrer Mutter wurde bis zu ihrem Tod verleugnet. Haben Sie dennoch mit Ihrer Mutter Frieden geschlossen?

Ja, das habe ich. Bevor meine Mutter starb, sagte sie mir auf dem Sterbebett, dass sie uns Kinder nie hätte kriegen sollen, sie sei einfach nicht zur Mutter gemacht. Das hat mich einerseits tief verletzt. Anderseits kannte ich sie gut genug, um zu wissen, dass es eigentlich ein Schuldgeständnis ihrerseits war. Ich liebe meine Mutter noch immer und bewundere die Frau, die sie einmal war – bevor sie alkoholkrank wurde. Ich habe heute insofern Verständnis für ihren Kampf, den sie leider verloren hat, weil ich weiss, dass sie auch nie die Hilfe bekommen hat, die sie nötig gehabt hätte. Sie hatte in der Zeit, in der sie noch eine Chance gehabt hätte, vom Alkohol loszukommen, nie die Unterstützung, die sie gebraucht hätte, um gesund zu werden.

Kinder sind der Suchterkrankung der Eltern oftmals schutzlos ausgeliefert. Was müsste getan werden, um sie besser zu schützen? Was würden Sie sich wünschen?

Kinder sind schutzlose Wesen, kleine Engel, die von ihren Eltern abhängig sind. Mutter und Vater sind ihre Vorbilder und sie lieben sie bedingungslos. Das macht sie schutzlos und es bricht mir noch heute das Herz, wenn ich verwahrloste, vernachlässigte Kinder sehe.

Unsere Gesellschaft darf nicht wegsehen, aber sie tut es oft. Nachbarn mischen sich lieber nicht ein und auch die Behörden reagieren oft erst dann, wenn es fast zu spät ist.

Ich weiss nur eins: Wenn die Eltern nicht therapierbar sind oder keine Unterstützung wollen, keine Hilfe suchen, dann ist dies das eine. Aber den Kindern muss die Möglichkeit gegeben werden, dass sie aus der Spirale ausbrechen können.

Wie könnte diese Hilfe aussehen?

Indem man ihnen eine Broschüre mitgibt, wo sie sich jederzeit melden können und in der erklärt wird, was es alles für Suchtprobleme gibt und wie Kinder sich dabei fühlen, kann man, so glaube ich, viel erreichen. Auch ein Lehrer, der einen guten Zugang zu seinen Schülern hat, kann das Gespräch suchen. Die Vermutung allein, dass bei dem Kind familiär vielleicht nicht alles in Ordnung ist, sollte reichen, um zu handeln.

Hätten Sie über die Probleme gesprochen, wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten?

Ich glaube, dass ich angerufen hätte, hätte man mir eine Broschüre in die Hand gedrückt. Denn dann hätte ich gespürt, dass ich vielleicht doch recht habe mit meiner Wahrnehmung und meinen Gefühlen.

Weitere Infos zum Buch und zu der Autorin finden Sie unter www.meinnameistjulia.ch. Das Buch kann auf der Website bestellt werden.