In meiner Arbeit als Heilpädagoge werde ich immer wieder mit unterschiedlichen Vorstellungen von Normalität konfrontiert. Die Unterteilung in «normal» und «nicht normal» macht mich oftmals wütend. Sie beginnt bereits vor der Geburt und dient nicht dem Kind, sondern nur dem, der gerade bewertet, was denn «normal» bedeutet.
Was ist normal?
Wie oft wurden Sie während der Schwangerschaft gefragt: «Ist es ein Junge oder ein Mädchen?» Egal, wie die Antwort ausfällt, irgendwann im Gespräch heisst es oft entweder von den werdenden Eltern oder vom Gegenüber: «Hauptsache gesund!» Zwei Worte, die mich oft wütend machen. Wenn ich diesen Missstand jeweils anspreche, erhalte ich oft ein «Warum? Das ist doch gut gemeint.» Hier geht es aus meiner Sicht um etwas ganz anderes, als den Eltern ein gesundes Kind zu wünschen. Es geht um etwas, was der Mensch ständig tut, und um eine Angst, die tief im Innern von vielen von uns verankert ist.
Normalität dient einzig dem Eigenschutz
Der Mensch unterscheidet im Leben nämlich oft zwischen «normal» und «nicht normal». Nicht nur als Heilpädagoge, auch als Lernberater, werde ich immer wieder mit diesen Definitionen konfrontiert. Doch was ist normal? Normalität liegt im Auge des Betrachters: Wir wollen unsere Normalität schützen, indem wir Bedrohliches, Beängstigendes und Unbekanntes als «nicht normal» bezeichnen. Durch die Definition von Normalität nimmt man sich selbst in Schutz. Alles ausserhalb der eigenen Normalität muss man nicht erreichen, sich nicht damit beschäftigen. Was als normal gilt, kann man praktischerweise auch noch selber definieren. Was als «normal« gilt, hängt mit den gesellschaftlichen Strukturen und den kulturellen Faktoren zusammen, wie auch mit dem Wandel der Zeit.
Genau das ist mein Problem mit der Aussage «Hauptsache gesund!». Gesund zu sein, gehört auch zur Definition von Normalität. Normal ist laut dieser Aussage, wer gesund ist. Doch was ist mit einem Kind mit einer Beeinträchtigung? Wie reagieren Sie auf eine solche Nachricht? Beeinträchtigungen sind schwer zu verstehen, und der Umgang mit Menschen, die eine Beeinträchtigung haben, egal ob körperlich oder psychisch, ist oftmals anders als bei Menschen ohne. Viele definieren Beeinträchtigungen, egal welcher Art, als «nicht normal» und entschuldigen damit ihr eigenes Verhalten.
«Nicht normal» zu sein, ist ein Zwangsstatus
Doch mit welchem Recht erklären wir einen Menschen als «nicht normal»? Nicht nur die Betroffenen selber kämpfen immer wieder mit Blicken und Vorurteilen, auch deren Angehörige sind oftmals im Fokus des Interesses und dies ohne eigenes Verschulden.
«Behinderung ist kein vorgegebener Zustand, sondern beruht auf der Zuschreibung von Erwartungshaltungen durch die Anderen. Der Mensch mit einer Behinderung ist ‹in unerwünschter Weise anders›, er weicht von wie auch immer bestimmbaren Normen ab. Die Behinderung ist im Wesentlichen das Resultat sozialer Reaktionen. Der behinderte Mensch wird typisiert, etikettiert, stigmatisiert, kontrolliert. Behindertsein ist von daher ein Zwangsstatus.» (Cloerkes, 2001)
Diese Definition trifft es aus meiner Sicht auf den Punkt. Für die betroffene Person ist es wie erwähnt ein Zwangsstatus, welcher von aussen gegeben wird. Einem Zwang ausgesetzt zu sein, ist nicht schön. Wir als Gesellschaft können diesen Status verändern, indem wir alle Menschen zur Menschheitsfamilie zählen und niemanden ausschliessen.
Teilhabe: In der Schule und im Alltag
Die Schule versucht ihren Teil beizutragen in Form von Integration und immer mehr wird sogar die Inklusion angestrebt. Als Heilpädagoge und Lernberater empfinde ich weniger die Form als vielmehr den Versuch einer möglichen Partizipation, also Teilhabe, aller Menschen als erstrebenswert. Die Theorie der selbsterfüllenden Prophezeiung ist vielen bekannt. Es geht darum, dass etwas geschieht, wie man es erwartet. Nehmen wir alle Menschen als «normal» an, so wird auch unser Zusammenleben normal erlebt und der Zwangsstatus verschwindet. Für mich ist das ein wichtiger Leitsatz in meiner täglichen Arbeit.
Michael Berger ist schulischer Heilpädagoge und Lernberater mit Erfahrung auf allen Schulstufen. Mit seinem Angebot auf www.gezielt-lernen.ch wendet er sich an Eltern, Lehrpersonen und Lehrlingsbetriebe und bietet Unterstützung bei Lernschwierigkeiten an.