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Wann merke ich, dass mein Kind eine Brille braucht?

Weit über 60 Prozent aller Erwachsenen brauchen eine Sehhilfe. Doch wie ist das eigentlich bei Kindern? Tragen sie ein höheres Risiko, ebenfalls eine Brille tragen zu müssen, wenn dies auch bei der Mutter oder dem Vater der Fall ist? Die Augenärztin Sabine Siebel erklärt im Interview, worauf Eltern achten sollten.

Bild: igorwheeler/shutterstock.com

Wenn der Vater oder die Mutter eine Brille tragen muss, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es auch bei den Kindern der Fall ist?

Ja, es existiert eine familiäre Häufung. Im Falle einer ausgeprägten Fehlsichtigkeit der Eltern haben auch die Kinder ein erhöhtes Risiko, wegen einer Weit- oder Kurzsichtigkeit und/oder wegen einer Stabsichtigkeit eine Brille zu benötigen.

Wann merke ich als Elternteil, dass mein Kind nicht gut sieht – gerade im Vorschulalter, wenn sie noch nicht lesen können oder müssen?

Abklärungen hinsichtlich der Sehfähigkeit sollten bei Schielen, Augenzittern, ständigem Augenreiben, Zusammenkneifen, Blinzeln oder Stirnrunzeln, geröteten Augen und Tränen laufen, Lichtempfindlichkeit, Kopfschmerzen, häufigem Stolpern und Balancestörungen, Problemen beim Ballfangen, schnellem Ermüden beim Basteln und Malen, Unruhe oder zwanghaftem Schiefhalten des Kopfes unternommen werden.

Welche Augenuntersuchungen bei Kindern sind empfehlenswert?

Die Augengesundheit wird erstmals bei den kinderärztlichen Untersuchungen mitgeprüft. Hier kann der Kinderarzt schwere Formen von Seheinschränkungen oder beispielsweise einen angeborenen grauen Star feststellen – und wenn nötig weiterführende Untersuchungen durch den Augenarzt in die Wege leiten. Bei gesunden Kindern mit Risikofaktoren, also Schielen oder Fehlsichtigkeiten bei Eltern oder Geschwistern, frühgeborene Kinder, familiären, vererbbaren Augenkrankheiten, Syndromen oder Entwicklungsrückständen, empfiehlt sich eine erste Kontrolle beim Augenarzt bis zum ersten Lebensjahr. Alle anderen Kinder, die keinerlei Auffälligkeiten oder Störungen im Bereich der Augen aufweisen, sollten ab dem dritten Lebensjahr etwa alle zwei Jahre augenärztlich untersucht werden.

Worauf sollten Eltern dabei achten?

Bei den Untersuchungen ist es ratsam, augenärztliche Kontrollen mit Untersuchungen in der Sehschule (Orthoptik) zu kombinieren. Orthoptist/innen sind spezialisiert auf die Augenuntersuchung von Kindern und helfen insbesondere auch bei der Behandlung von häufigen Augenerkrankungen wie Fehlsichtigkeiten oder dem Schielen. Bei diesen Untersuchungen werden Augentropfen appliziert, die die Pupille erweitern, durch welche die Kinder das Bild nicht mehr scharf stellen. So können sie die Messung nicht mehr unbewusst verfälschen. Man spricht hier von objektiver Refraktionsmessung, welche bei kleinen Kindern unerlässlich ist. Orthoptist/innen und Augenärzte führen weitere Tests zur Visusprüfung (Sehschärfe) und für das Sehen mit beiden Augen (Binokulares Sehen) durch. Zudem wird der vordere Augenabschnitt wie auch der Augenhintergrund mit erweiterter Pupille untersucht.

Welche Augenleiden und -krankheiten treten am häufigsten auf? Womit haben Sie in Ihrer Tätigkeit am häufigsten zu tun?

Bezogen auf die Kinderaugenheilkunde sind die häufigsten Gründe für einen Besuch beim Augenarzt sicherlich die Korrektur von Fehlsichtigkeiten mit Brillenanpassungen und die Behandlung von Schwachsichtigkeit (Amblyopie), gefolgt von Schielproblemen und entzündlichen oder allergischen Bindehautentzündungen. Im höheren Erwachsenenalter stehen der graue Star, der grüne Star, das Syndrom des trockenen Auges, Netzhauterkrankungen wie die Makuladegeneration oder diabetische Netzhautveränderungen und ebenfalls entzündliche oberflächliche Binde- oder auch Hornhauterkrankungen im Vordergrund.

Kinder und eine Sehhilfe vertragen sich nicht immer. Wenn mein Kind auf eine Brille angewiesen ist, diese aber nicht tragen will – gibt es da irgendwelche Tricks?

Den absoluten Geheimtipp dazu habe ich leider nicht. Bei kleineren Kindern sollte man mit viel Geduld immer wieder spielerisch versuchen, die Brille aufzusetzen – aber auch Verständnis dafür zeigen, wenn das Kind Mühe damit hat: im Sinne von «steter Tropfen höhlt den Stein». Bei grösseren Kindern kann man beispielsweise vereinbaren, dass sie nur mit Brille gamen oder fernsehen dürfen.

Kinder und Jugendliche müssen bereits in der Schule am Computer arbeiten. Verändern sich somit auch die Augenleiden der heutigen Zeit?

Die häufige Sorge, dass vermehrte Arbeit am Bildschirm und verstärkter Konsum von Bildschirmmedien zu einer Zunahme von Kurzsichtigkeit führen könnte, hat sich nicht bestätigt. Es ist zwar weltweit – vor allem aber in Asien – eine Zunahme der Kurzsichtigkeit zu verzeichnen. Dies hängt jedoch im Allgemeinen mit der vermehrten Naharbeit zusammen. Es ist dabei nicht von Belang, ob ein Buch gelesen, auf das Handy geschaut oder an einem Bildschirm gearbeitet wird. Um dem entgegenzuwirken, sollte man Kinder täglich ein bis zwei Stunden draussen spielen lassen, da die Augen hier immer wieder automatisch in die Ferne schweifen und so die Zunahme der Kurzsichtigkeit gebremst wird. Auch das natürliche Licht hemmt über den Botenstoff Dopamin, welcher im Auge freigesetzt wird, der Entwicklung zur Kurzsichtigkeit entgegen. Was allerdings klar im Zusammenhang mit vermehrter Bildschirmtätigkeit zu sehen ist, ist das Problem des trockenen Auges. Insbesondere während der coronabedingten Homeschooling-Phasen sind zunehmend auch Schüler und Studenten mit trockenen, geröteten Augen und Symptomen wie verschwommenem Sehen in die augenärztliche Praxis gekommen, was sonst in dieser Altersgruppe eher seltener vorkommt.