Artikel / Themen

Übertrittsgespräche: Ein Übertritt mit Hindernissen

Der Übertritt von der Primarschule an die Oberstufe birgt in der Kommunikation zwischen Lehrpersonen und Eltern Konfliktpotenzial. Oft führen auch Missverständnisse und falsche Vorstellungen zu Uneinigkeit.

Bild:©Delpixel/shutterstock.com

Vanessa wird in die Realschule gehen. Robin in die Sekundarschule. Und Cyrill sagt, er komme in die Bezirksschule, also jene Schule im Kanton Aargau, die man in anderen Kantonen Progymnasium oder Sekundarschule A nennt. Die Schülerinnen und Schüler der fünften Klasse, zu der auch unser Sohn (11) gehört, hatten kürzlich mit ihrem Lehrer ein Gespräch, in dem sie sich selbst einschätzen und ihre Ziele für die Oberstufe kundgeben durften. Der Lehrer seinerseits teilte ihnen mit, welche der drei Schulstufen er den Kindern in der Oberstufe empfehlen würde. Die Noten des fünften Schuljahres spielen dabei eine wichtige Rolle, aber auch das Arbeits- und Lernverhalten in der Klasse. Unser Sohn scheint mit dem Verlauf des Gesprächs und der Einschätzung seines Lehrers zufrieden zu sein. Noch wichtiger – so dünkt es mich – ist ihm jedoch, dass seine zwei besten Freunde ebenfalls für die gleiche Schule vorgeschlagen wurden. Noch ist nichts definitiv entschieden. Das Elterngespräch steht noch vor der Tür. Doch die Weichen werden bereits früh gestellt. Und ich weiss vom Hörensagen, dass nicht alle Eltern mit gewissen Vorentscheidungen glücklich sind.

Belastung für die Eltern

Die Übergangsphase von der Primarschule an die Oberstufe ist für viele Eltern eine Belastung, vor allem dann, wenn die Leistungen der Kinder nicht den Erwartungen der Eltern entsprechen und dadurch das anvisierte Schulziel ins Wanken gerät. «Die befragten Eltern fühlen sich verantwortlich, ihre Kinder selbst zu bilden und ihre fachlichen sowie sozialen Kompetenzen bewusst zu entwickeln», beobachtet Katriina Vasarik Staub von der Universität Zürich, Autorin der Studie «Die Übergangsphase von der Primarschule ins Gymnasium aus Elternsicht». Alle befragten Eltern wünschen ihren Kindern eine erfolgreiche Zukunft mit möglichst vielen offenen Wegen zur Berufswahl oder zum Studium. «Dass dies aber mit hohen Leistungsanforderungen verbunden ist, spüren die Eltern bereits zu einem Zeitpunkt, in dem es noch ein oder zwei Jahre bis zum erwünschten Übertritt ins Gymnasium dauert», sagt Katriina Vasarik Staub.

Laufbahnentscheid für die passende Schulzukunft

«Das Übertrittsgespräch findet in der Regel im Dezember/Januar des sechsten Schuljahres statt und ist eine Standortbestimmung für das Kind», umschreibt Samuel Zingg aus Mollis GL, er ist Vizepräsident des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). «Im Übertrittsgespräch gilt es, für das Kind die optimale Lösung für die Oberstufe zu finden.» Dieser Laufbahnentscheid für die passende Schulzukunft sollte möglichst im Einvernehmen mit allen Beteiligten gefällt werden. Die Schülerinnen und Schüler bringen im Gespräch ihre Einschätzungen ein – ebenso wie die Eltern und Lehrperson. Das Gespräch dauert in der Regel zwischen 30 Minuten und einer Stunde. Im Normalfall findet das Gespräch mit der Klassenlehrperson statt. In seltenen Fällen kommen Fachlehrpersonen oder gar die Schulleitung hinzu.

Kommunikationskultur spielt eine wichtige Rolle

Auch wenn allen Beteiligten das Wohl des Kindes wichtig ist, verlaufen Übertrittsgespräche nicht immer einvernehmlich und harmonisch. Das weiss zum Beispiel auch Jeannette Forster, Schulleiterin der Schule Kilchberg im Kanton Zürich. «Wir haben zum Glück selten Fälle, in denen sich die Eltern und Lehrpersonen nicht einig werden. Falls sich die Parteien trotzdem nicht einigen können, komme ich als Schulleiterin ins Spiel.» Die Kommunikationskultur spielt bei solchen Gesprächen eine zentrale Rolle. Die Schule Kilchberg arbeitet mit einem Kommunikationskonzept, das die Werte und Haltungen im Umgang mit Kindern, Eltern und anderen Ansprechgruppen der Schule regelt. Dazu gehört zum Beispiel auch folgender Grundsatz: «Wir pflegen einen freundlichen Umgang mit allen Lernenden, Lehrenden, Eltern und Behördenmitgliedern und nehmen sie als gleichberechtigte Partner war.» Weiter sollen die Lehrpersonen und Eltern mit ihren Sorgen und vielleicht auch Ängsten ernst genommen werden.

Nicht nur die Noten zählen

Was wird im Übertrittsgespräch thematisiert? «Die Lehrperson informiert die Eltern über ihre Einschätzungen zum Kind und seinen schulischen Leistungen», sagt Jeannette Forster. Dabei werden vor allem die mündlichen und schriftlichen Leistungen in den Fächern Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen und Natur-Mensch-Gesellschaft (NMG) berücksichtigt, aber auch das Arbeits- und Lernverhalten wie zum Beispiel Konzentrationsfähigkeit, Belastbarkeit, Teamfähigkeit, Selbstständigkeit, Arbeitstempo oder das Lerninteresse berücksichtigt. Hinzu kommen die Selbsteinschätzung des Kindes und die Sicht der Eltern beispielsweise zum Verhalten des Kindes zu Hause als weitere Beurteilungskriterien. Die Noten seien bei der Beurteilung nicht das wichtigste Kriterium, betont Jeannette Forster – das Arbeits- und Lernverhalten des Kindes sei ebenso entscheidend. Und genau bei diesem Punkt scheiden sich manchmal die Geister: «Manche Eltern haben das Gefühl, dass man ihrem Kind allein mit guten Noten den Sprung an die beste Schule der Oberstufe ermöglichen sollte», erzählt die Schulleiterin. Dass bei der Beurteilung auch andere Kriterien wie Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten sowie die persönliche Entwicklung des Kindes eine wichtige Rolle spielen, werde manchmal nicht verstanden.

Gesamtbeurteilung ist entscheidend

Diese Erfahrungen macht auch Samuel Zingg: «Herausfordernd wird es in einem Übertrittsgespräch, wenn Eltern in ihrem Kind ein Projekt sehen und ganz andere Vorstellungen zur weiteren Schulkarriere haben.» Den Eltern sei oft zu wenig bewusst, dass die Gesamtbeurteilung des Kindes nicht nur aus Noten bestehe. Ziel sei es, das Kind in der Oberstufe weder zu unter- noch überfordern. Die Selbstkompetenz sowie das Arbeits- und Lernverhalten, also wie das Kind im Schulunterricht mit neuen Aufgaben, abstraktem Denken oder der Arbeit im Team umgeht, spielen für den künftigen Schulerfolg laut LCH-Vizepräsident eine zentrale Rolle. «Aus dieser Sichtweise sind für mich als Lehrperson die Noten sogar zweitrangig», sagt Samuel Zingg. In Kantonen wie etwa Glarus arbeitet man für den Übertritt in die Oberstufe schon seit Längerem nicht mehr mit fixen Notenvorgaben, sondern konzentriert sich auf die Gesamtbeurteilung. «Mit dem Lehrplan 21 wird diese Beurteilungspraxis sogar noch stärker gewichtet», erklärt Samuel Zingg.

Transparente Kommunikation

Mit einer klaren, transparenten Kommunikation rund um das Übertrittsgespräch lassen sich viele Missverständnisse und Konflikte im Vornherein verhindern, ist Samuel Zingg überzeugt. Die Gemeinde Glarus etwa hat vor fünf Jahren den Prozess der Übertrittsphase klar ausgewiesen und umschrieben. Dadurch erfahren die Eltern, was im Übertrittsgespräch besprochen wird und dass die Oberstufe durchlässig ist. «Seither haben wir an der Schule kaum mehr Einsprachen gegen einen Übertrittsentscheid», schildert Samuel Zingg. Die neue Praxis habe zu einer allgemeinen Beruhigung der Übertrittsgespräche geführt.

Rekurse und Prüfungen

Sollte es zwischen Eltern und Lehrperson trotz aller Vermittlungsbemühungen vonseiten der Schulleitung zu keiner Einigung kommen, entscheidet je nach Kanton eine Prüfung oder die Schulpflege über die Zuweisung des Kindes an die Oberstufe. Im Kanton Zürich beispielsweise können die Eltern beim Bezirksrat einen Rekurs einreichen. «Wir stellen vor allem in städtischen Gebieten eine Tendenz zu Rekursen und Anfechtungen mithilfe von Anwälten fest», berichtet Samuel Zingg. Eltern und Schüler sollten sich jedoch bewusst sein, dass die Zuteilung in die Oberstufe keine definitive Berufsentscheidung darstellt. Das Schweizer Bildungssystem ist sehr durchlässig und ermöglicht es den Jugendlichen, auf unterschiedlichen Wegen zu ihrem Ziel zu gelangen. So ist es beispielsweise möglich, dass Robin mit einer Berufslehre und der Berufsmatura an der Fachhochschule oder mit einem Passerellenjahr an der Universität studieren kann. Und Cyrill wird vielleicht nach der Matura eine Berufslehre absolvieren. ++

www.lch.ch
www.schule-kilchberg.ch

Schule und Elternhaus Schweiz (S&E)

Eltern eine Stimme geben
Die Anliegen der Eltern vertreten
Als Elternorganisation der deutschsprachigen Schweiz vertritt Schule und Elternhaus Schweiz (S&E) auf nationaler Ebene die Anliegen der Eltern zu Themen rund um die Schule – und dies seit über 60 Jahren. S&E Schweiz fördert zusammen mit den kantonalen, regionalen und lokalen Sektionen die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Schule, Behörden und Eltern. S&E ist Patronatgeber des Berufswahl-Portfolios.

Die Aktivitäten von S&E:
Organisation von Veranstaltungen und Kursen
Beratung von Elterngruppen
Lobby- und Medienarbeit
Nationales und internationales Netzwerk
Lancierung von Projekten im Bereich Bildung und Erziehung
S&E ist offizieller Vernehmlassungspartner beim Bund und in vielen Deutschschweizer Kantonen.

www.schule-elternhaus.ch