Der Übertritt von der einen Schulstufe zur anderen ist in der Schweiz von Kanton zu Kanton unterschiedlich und an Selektionsprozesse geknüpft. Ob diese Modelle den Schülerinnen und Schülern bzw. ihren Fähigkeiten gerecht werden, ist umstritten.
Selektion mit Hindernissen
Anfang des 20. Jahrhunderts entsprachen die Leistungsniveaus in den Schulen den gesellschaftlichen und sozialen Ständen: Bauernkinder gingen in die Realschule, Bürgerkinder in die Sekundarschule und Adelskinder ins Gymnasium. Eine Durchlässigkeit war damals nicht vorgesehen. Obwohl heute eine grössere Durchlässigkeit besteht, zeigen Studien, dass Wechsel zwischen Leistungsniveaus selten vorkommen. Dies gilt vor allem bei Schulmodellen mit strikt getrennten Leistungsniveaus. Der Vorstand des VSLCH (Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz) hat die aktuelle Diskussion mit der Forderung nach einer Volksschule ohne Selektion angestossen. Als Reaktion darauf hat der LCH (Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz) eine breit abgestützte, interne Diskussion zur schulischen Selektion in der Volksschule lanciert.
Der richtige Zeitpunkt
Ein oft debattierter Faktor ist gemäss dem LCH der Zeitpunkt der Selektion. Überlegungen über eine Verschiebung der Selektion bis zum Ende der Volksschule sind nicht neu. In zahlreichen Schulgemeinden und mehreren Kantonen wie zum Beispiel im Tessin, Wallis, Obwalden, Bern, Neuenburg und Jura gibt es bereits Modelle mit weniger strikt getrennten Stammklassen und mehr Durchlässigkeit. Dem gegenüber steht etwa der Kanton Zürich, wo für das Langzeitgymnasium eine Aufnahmeprüfung verlangt wird und eine eingeschränkte Durchlässigkeit in der Oberstufe bzw. Sekundarstufe I besteht. Neben dem Zeitpunkt spielen auch die Kriterien der Selektion und die Entscheidungsträger eine Rolle. Ausserdem sind die frühe Förderung und die sozioökonomische Situation der Familien von entscheidender Bedeutung.
Aus der Geschlechterperspektive
Sind Jungen schulisch benachteiligt, insbesondere auch in den Selektionsverfahren beim Übertritt in die nächste Schulstufe? Catherine Bauer und Michaela Heid von der Pädagogischen Hochschule Bern haben sich in ihrer Studienarbeit «Ungerechte Selektion? Ergebnisse einer Expertenbefragung zu den Schulübertritten im Kanton Bern unter Berücksichtigung der Geschlechterperspektive» damit befasst. Bildungsstatistische Daten zeigen ein klares Bild: Die Mädchen sind den Jungen zahlenmässig tatsächlich überlegen, was die Verteilung in den anspruchsvolleren Schultypen bzw. Ausbildungsgängen der Sekundarstufe I und II sowie bei den Maturitätsabschlüssen angeht. Die Untervertretung von Jungen in den höheren Schulniveaus der Volksschule und der Mittelschulen wird von den Expertinnen und Experten laut Catherine Bauer und Michaela Heid zwar ernst genommen, aber nicht als dramatisch eingeschätzt. Zum einen wird diese Einschätzung damit begründet, dass Jungen andere Bildungsziele und Prioritäten hätten als Mädchen, zum anderen damit, dass Jungen bzw. Männer später in den nachobligatorischen Ausbildungsgängen und im Berufsleben gut vertreten und sogar erfolgreicher seien. Als zentral wird bewertet, dass die unterschiedlichen Bildungsverläufe letztlich zu intakten Berufschancen führten. Die weitaus grösste Gefährdung für den Schulerfolg werde jedoch, so die beiden Studienautorinnen, nicht isoliert im Faktor Geschlecht gesehen, sondern in der Kumulation von Risikofaktoren, insbesondere bezüglich der sozialen und nationalen Herkunft.
14000 Jugendliche im Nachteil
Die Kritik scheint berechtigt – zu diesem Schluss kommt jedenfalls auch die Studie von Oliver Wymann im Auftrag von Alliance Chance +, einem Zusammenschluss von Förderprogrammen und Bildungsinstitutionen mit dem Ziel, nachhaltig für Chancengerechtigkeit im Jugendalter einzutreten. Aus der Studie geht hervor, dass das Schweizer Selektionssystem während der 5./6. Klasse die Bildungsgerechtigkeit nachhaltig beeinträchtigt und verhindert, dass ein verstörend grosser Teil von Kindern und Jugendlichen während der 11-jährigen Schulzeit ihr Potenzial nicht entfalten können und durchs Netz weiterführender Schulen oder einer Lehre fallen. 14 000 sozial benachteiligte Jugendliche werden nicht ihrem Potenzial entsprechend ausgebildet und fehlen so als Fachkräfte in der Wirtschaft. Schon nur die Tatsache, dass Kinder ausgerechnet während der ohnehin stressbehafteten Zeit der Pubertät der Belastung durch Übertrittsverfahren und zusätzlichem Druck ausgesetzt sind, stimmt nachdenklich. Nicht nur das: Auch Lehrpersonen und Eltern empfinden den Zeitpunkt als sehr stressig.
Schulische, methodische und soziale Kompetenzen
Wie beurteilen die Vertreterinnen und Vertreter der S&E-Sektionen die Situation der Schulübertrittsverfahren? Im Kanton Zug erfolgt der Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe I basierend auf den schulischen Leistungen in den Fächern Deutsch, Mathematik und NMG sowie auf der Beurteilung der methodischen und sozialen Kompetenzen durch die Lehrperson, wie Claudia Castro, Co-Präsidentin von S&E Stadt Zug, informiert. Anfang des zweiten Semesters der fünften Klasse werden die Kinder und Eltern in einem Orientierungsgespräch über die konkreten Leistungsanforderungen informiert. In einem Zuweisungsgespräch nach dem ersten Semester der sechsten Klasse wird dann die passende Einteilung beschlossen. Falls keine Einigung erzielt wird, können Eltern einen Übertrittstest beantragen, dessen Ergebnis den Entscheid beeinflusst. Ein späterer Wechsel zwischen der Sekundarschule und dem Langzeitgymnasium ist möglich, wenn die Leistungen dies rechtfertigen. Nach der Sekundarstufe besteht zudem die Möglichkeit, bei entsprechendem Notendurchschnitt aufs Kurzzeitgymnasium zu wechseln.
Langfristige Beobachtung
«Das Selektionsverfahren ist weitgehend zielführend», findet Claudia Castro. «In den meisten Fällen werden die Kinder von den Lehrpersonen richtig eingestuft und eine Einigung mit den Eltern erzielt. Den Schülerinnen und Schülern bleibt ein unnötiger Übertrittsprüfung-Stress wie in anderen Kantonen dadurch erspart. Sie müssen sich in ihrer Freizeit nicht noch mit weiteren Anforderungen und Leistungsnachweisen befassen.» Allerdings verfolge der Regierungsrat derzeit Pläne, die Übertrittsprüfung wieder einzuführen, um die gymnasiale Maturitätsquote im Kanton von 22,6 Prozent zu senken. Vorteile im jetzigen Modell sieht Claudia Castro auch für die Lehrpersonen: «Sie sind in ihrer Unterrichtsgestaltung frei und können auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen, anstatt durch formale Direktiven von höheren Fachstellen gesteuert zu sein.» Die Eltern schliesslich könnten darauf vertrauen, dass eine Einstufung aufgrund einer langfristigen Beobachtung und im gegenseitigen Austausch erfolgt und nicht anhand einer momentanen Verfassung an einem Prüfungstag. Daneben ortet die Co-Präsidentin der S&E-Sektion der Stadt Zug auch gewisse Nachteile: «Kinder fühlen sich manchmal unfair beurteilt, gerade wenn sie ihre Lehrperson nicht so gerne mögen. Zudem haben sie Mühe, all die Aspekte einer Einstufung zu verstehen.» Als S&E-Vertreterin würde sich Claudia Castro eine bessere Vergleichbarkeit der Rahmenbedingungen im Selektionsprozess wünschen, zum Beispiel bei der Art der Notengebung.
Kanton Aargau: Durchlässige Oberstufenzüge
Im Kanton Aargau geht es nach sechs Jahren Primarschule in drei verschiedenen Zügen weiter. Die anspruchsvollste Stufe ist dabei die Bezirksschule, dann folgen Sekundarschule und Realschule. Der Vorschlag zur Selektion erfolgt aufgrund der Noten in der sechsten Primarklasse. Die Klassenlehrperson schätzt die Schüler und Schülerinnen jedoch auch aufgrund derer Selbständigkeit und Arbeitswillen ein. In einem Elterngespräch wird dann der Vorschlag diskutiert. «Sind die Eltern nicht einverstanden, geben die Lehrpersonen meist nach, um Streitigkeiten zu vermeiden», berichtet Susanne Menegaldo, Präsidentin von S&E Kanton Aargau. Die Oberstufenzüge sind durchlässig, sodass ein Kind bei Bedarf in eine andere Schulstufe wechseln kann. Eine Wiederholung der Klasse an der Oberstufe gibt es hingegen aufgrund ungenügender Noten nicht. «Es ist meiner Ansicht nach ein grosser Vorteil der Selektion aufgrund der Leistungen des ganzen Schuljahres, sodass die Kinder nicht wegen eines einmaligen Resultats an einer Prüfung eingestuft werden», betont Susanne Menegaldo. Bei Unentschlossenheit stehe S&E den Eltern mit einer Beratung zur Seite. Denn: «Es darf nicht sein, dass ein Kind wegen falschen Ehrgeizes der Eltern unter grossen Druck gerät und dadurch sogar psychischen Schaden nimmt.»
Kanton Bern: Real oder Sek
Im Kanton Bern erfolgt die Selektion nach der sechsten Primarschule. Die Schülerinnen und Schüler werden in den Fächern Mathematik, Deutsch und Französisch in die zwei Niveaus Real und Sek eingeteilt, wie Jan Holler von S&E Kanton Bern informiert. Das bedeutet: Wer zwei Fächer im Realschulniveau hat, ist Realschüler, wer zwei Fächer im Sekundarschulniveau hat, ist Sekundarschülerin. In einzelnen Gemeinden und im frankofonen Teil des Kantons Bern wird zusätzlich ein drittes Niveau auf Sek-Niveau als Vorbereitung auf das Gymnasium geführt. Die Gemeinden entscheiden selber, ob der Unterricht getrennt nach Niveau oder teilweise gemeinsam erfolgt.
«Die Selektion wird den Kindern nicht gerecht»
«Ich bin der Meinung, die Selektion sollte ganz abgeschafft werden. Sie lässt sich nicht reformieren und findet später von selber statt. Kinder sind zu jung, um selektiert zu werden. Es wird ihnen nicht gerecht. Kinder entwickeln sich unterschiedlich», begründet Jan Holler. Wenn die Selektion durch eine Prüfung erfolgt oder die Durchlässigkeit der Sekundarstufe I gering ist, stehen viele Eltern und Kinder unter starkem Selektionsdruck, beobachtet Gabriela Heimgartner, Präsidentin von S&E Schweiz. «Aus diesem Grund beurteilen wir Übertrittsprüfungen als problematisch und begrüssen das inte-grierte Modell der Sekundarstufe I. Wir bevorzugen auch einen Eintritt ins Gymnasium frühestens in der neunten Klasse, damit alle Schülerinnen und Schüler den Berufswahlprozess mitmachen.» ++
MOSAIKSCHULE ALS VORBILD?
Die Oberstufenschule Munzinger ist eine der grössten Mosaikschulen der Schweiz, die erste dieser Art im Kanton Bern und existiert in dieser Form seit 2014. Sie wird von rund 380 Schülerinnen und Schülern in 18 alters-, leistungs- und niveau-(Sek/Real)durchmischten Klassen besucht. Während neun Lektionen pro Woche bearbeiten die Schülerinnen und Schüler im Rahmen des selbst organisierten Lernens (SOL) Aufträge aus den Fächern Deutsch, Französisch, Englisch, Mathematik und Natur–Mensch–Gesellschaft. Sie können dabei selbst entscheiden, in welcher Reihenfolge, an welchem Ort und mit wem sie die Aufträge bearbeiten. Zudem findet ab einem halben Tag pro Woche Projektunterricht statt. Hier bestimmen die Schülerinnen und Schüler frei, an welchem Projekt sie arbeiten.
Durchmischung als Vorteil
Die Durchmischung der Klasse, unabhängig von Alter, Leistung und Niveau, sei bei der Selektion bzw. beim Übertritt von der Primar- an die Oberstufe ein grosser Vorteil, findet Schulleiter Giuliano Picciati. Zum einen, weil sich die Frage der Schul- bzw. Niveauwahl am Ende der Primarschule dadurch gar nicht stelle, denn die Schülerinnen und Schüler besuchen weiterhin zusammen die gleiche Klasse und Schule. Zum anderen, weil sich bei herkömmlichen Selektionen die Schülerinnen und Schüler in der Realschule oft benachteiligt und abgestempelt fühlten, wie Giuliano Picciati feststellt. Entspannung bedeute dieses Modell aber auch bereits bei den Übertrittsgesprächen zwischen Eltern und Lehrpersonen. Letztere geben, so Giuliano Picciati, zwar eine Empfehlung ab, aber schlussendlich entscheiden die Eltern, in welches Niveau ihre Kinder an der Mosaikschule eingeteilt werden sollen. Auf der Oberstufe müssen sich dann die Jugendlichen im entsprechenden Fach bewähren, sonst wechseln sie das Niveau.
Problematische Doppelrolle
Giuliano Picciati ist vom Modell der Mosaikschule überzeugt und kritisiert zugleich die ansonsten gängige Praxis beim Übertritt, wo die Lehrpersonen Lernbegleiter und Richter zugleich sein müssen. «Diese Doppelrolle ist aus meiner Sicht ein Fehler im System – ein Widerspruch, der viele Probleme auslöst.» Die Leistungsbeurteilung und Einteilung der Schülerinnen und Schüler in der sechsten Klasse sei zudem schwierig und oft fehlerbehaftet. Denn in diesem Alter bewege und verändere sich bei den Jugendlichen oft sehr viel – vor allem bei den Jungs, wie der Schulleiter erklärt. Um Fehlentscheidungen zu vermeiden, plädiert er für ein durchlässiges System, das sich mehr an den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler anstatt deren Noten orientiert.
Eltern tragen die Verantwortung
Was bedeutet das Übertrittsmodell der Mosaikschule für die Rolle der Eltern? «Als wir mit unserer Schule starteten, stellten wir fest, dass die Eltern nicht mehr per se die Sekundarschule für ihre Kinder anstreben, sondern sich für eine gute Lösung für ihr Kind einsetzen. Sie kennen die Ressourcen ihrer Kinder am besten und tragen die Verantwortung für ihren Entscheid», schildert Giuliano Picciati seine Erfahrungen. In den meisten Fällen verbleiben die Jugendlichen in jenem Niveau, für das sich ihre Eltern beim Übertrittsgespräch entschieden haben. Stellt sich dagegen die Frage nach einem Übertritt ins Gymnasium, komme es nach wie vor zu divergierenden Meinungen zwischen Schule und Eltern. (fm)