Die Schweizer Schulen werden immer multikultureller. Etwa ein Viertel der Schülerinnen und Schüler haben eine ausländische Staatsangehörigkeit. Die Integration dieser Kinder bedeutet für das Bildungssystem Chance und Herausforderung zugleich.
Multikulturelle Vielfalt als Prüfstein für das Bildungssystem
Die Schweizer Schulen sind in den letzten Jahren deutlich multikultureller geworden. Zu diesem Schluss kommt Urs Moser, Professor am Institut für Bildungsevaluation der Universität Zürich; der Wissenschaftler beschäftigt sich unter anderem mit der Förderung fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler als Forschungsschwerpunkt. Laut Bundesamt für Statistik (BFS) machten im Schuljahr 2023/2024 die Kinder ausländischer Staatsangehörigkeit mehr als einen Viertel der Klassen in der obligatorischen Schule aus. Wie das BFS informiert, hat seit dem Schuljahr 1990/1991 der Anteil fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler in der obligatorischen Schule um 27 Prozent zugenommen. Je nach Schulort gibt es Schulklassen mit einem Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund von 80 bis sogar 100 Prozent. Vor allem städtische Kantone und die Kantone der Westschweiz weisen laut BFS vermehrt Schulabteilungen mit vielen Schülerinnen und Schülern auf, die aus anderen Kulturen stammen. Im Kanton Zürich etwa haben rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen an den Schulen einen Migrationshintergrund, wie Urs Moser informiert.
Chancen und Herausforderungen
Die Multikulturalität im Klassenzimmer bietet Chancen, bringt aber auch Herausforderungen und birgt Konfliktpotenzial. Von den Lehrpersonen wird erwartet, dass sie sich im Umgang mit der kulturellen Vielfalt sensibel zeigen und das Wissen sowie die Erfahrungen von Kindern mit Migrationshintergrund im Unterricht als Ressource nutzen können. Inklusion bedeutet, dass alle Kinder – unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten und ihrer Herkunft – gemeinsam in regulären Schulen unterrichtet werden. Verschiedene Studien wie etwa jene der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) zeigen: Integrative Schulsysteme reduzieren Bildungsungerechtigkeiten und führen zu besseren Ergebnissen in der beruflichen Integration von Jugendlichen.
Ängste und Vorurteile abbauen
In der Schule kommen Kinder und Jugendliche zusammen, deren religiöse und familiäre Wurzeln sowie Interessen und Traditionen sich grundlegend unterscheiden. Wenn Lehrer die Schule als Ort der Begegnung verstehen und den Kindern die Möglichkeit geben, gezielt voneinander zu lernen, kann die Heterogenität in den Klassen eine Chance für die Schüler sein und ihnen Wissen vermitteln, von denen sie ihr Leben lang zehren. Durch das Erwerben von interkulturellen Kompetenzen können Ängste und Vorurteile abgebaut werden bzw. entstehen diese möglicherweise erst gar nicht. Die Schule bekommt dadurch eine zusätzliche Bedeutung zum Fachunterricht. Soziale Kompetenzen können in einem halbwegs geschützten Rahmen erworben und erprobt werden. Das wird als grosse Stärke von Diversität genannt, dass die Schülerinnen und Schüler für das Leben lernen können. Sie bekommen die Möglichkeit, neue Kulturen und Sichtweisen kennenzulernen. So können sie ihren geistigen Horizont erweitern. Durch den täglichen Umgang nehmen die Schülerinnen und Schüler die Diversität nicht mehr als etwas Aussergewöhnliches im negativen Sinne wahr, sondern es wird zu einem selbstverständlichen Teil ihrer Lebenswelt.
«Es gibt klare Grenzen»
Spätestens seit den Pisa-Studien ist bekannt, dass es Schweizer Schulen eher schwerfällt, das Potenzial der Kinder mit Migrationshintergrund voll auszuschöpfen und die Chancengerechtigkeit zu gewähren. Untersuchungen zeigen, dass die betroffenen Kinder in Sprache und Mathematik unterdurchschnittlich abschneiden. Die integrative Schule sorgt zudem immer wieder für hitzige Debatten in der Schweizer Bildungspolitik. In mehreren Kantonen gibt es Initiativen für eine Rückkehr zu Kleinklassen. Dagmar Rösler, Präsidentin des Lehrerverbandes (LCH), kritisiert im Interview mit dem Blick die Politik, bei den Problemen der Schule zu lange weggeschaut zu haben. Die integrative Schule sei an ihre Grenzen gekommen. «Es gibt in der integrativen Schule, die wir nun 20 Jahre leben, viele herausfordernde Situationen. Wir sind nach wie vor dafür, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler in der Regelklasse unterrichtet werden, weil erwiesen ist, dass sie sehr viel vom Umgang mit den anderen profitieren können. Die Integration hat uns auch gezeigt, dass Intelligenz nicht der einzige Weg ist, um später beruflich erfolgreich zu sein. Die Vielfalt in der Schule ist eine grosse Chance für alle unsere Kinder. Aber es gibt klare Grenzen», sagt Dagmar Rösler gegenüber dem Blick. Mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen und Ansprüchen, die heute in einer Klasse zu finden sind, müssten, so Dagmar Rösler, zwei Fachpersonen in einem Klassenzimmer sein – permanent.
Kommunikation mit fremdsprachigen Eltern
Neben den knappen personellen und finanziellen Ressourcen im Bildungssystem stellt für die Schulen die Kommunikation mit fremdsprachigen Erziehungsberechtigten oft eine weitere Herausforderung dar, wie Forschende der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft (ZHAW) im Rahmen ihres Forschungsprojekts zur Schulkommunikation mit fremdsprachigen Eltern berichten. So sei zum Beispiel für Lehrpersonen in vielen Fällen nicht klar, über welche Kanäle sie Eltern am besten erreichen können. Über Briefe, die Schul-App oder per Telefon? Auch stellt sich ihnen häufig die Frage, wie sie mit geringen Deutschkenntnissen der Eltern am besten umgehen können. Eine gelungene Integration der Kinder in die Schule steht somit stets auch mit dem Integrationswillen der Eltern in Zusammenhang. Dabei spielt die Sprache, aber auch die Einstellung der Eltern zur Bildung generell eine zentrale Rolle: Sind sie bereit, die Landessprache zu lernen und sich zu integrieren? Unterstützen sie den Bildungsweg ihrer Kinder?
Sozioökonomische Ressourcen mit grossem Einfluss
Im Vergleich zu Schweizer Kindern haben es Migrantenkinder in der Schule vor allem deshalb schwerer, weil sie andere Lernvoraussetzungen mitbringen. «Jugendliche mit Migrationshintergrund sind folglich deutlich unterrepräsentiert in den Sekundarschulen und vor allem im Gymnasium, damit besteht auch eine geringere Chance, ein Studium aufzunehmen», schreiben Brigitte Blöchlinger und Marita Fuchs in ihrem Beitrag «Bildung statt Ausgrenzung», veröffentlicht im Online-News-Magazin der Universität Zürich. Dort erfährt man unter anderen, dass sich viele Eltern mit Migrationshintergrund offenbar für eine kurze und finanziell risikoarme Ausbildung ihrer Kinder entscheiden. Hinzu kommt, dass vielen Eltern das Schweizer Bildungssystem sehr fremd und komplex erscheint. Häufig falle auch deshalb der Entscheid für eine einfache schulische Laufbahn der Kinder, die man meint, einschätzen zu können. «Hier bleiben die Kinder mit Migrationshintergrund auf der Strecke», sagt der Bildungssoziologe Rolf Becker von der Universität Bern und stellt fest, «dass die Ethnie einen weitaus geringeren Effekt auf die Bildungschancen hat als die sozioökonomischen Ressourcen der Eltern». Rolf Becker hat die Bildungschancen von Migrantenkindern in der Schweiz untersucht.
Deutschkenntnisse sind entscheidend
Eher erfolgversprechend für die Förderung der Bildungschancen von jungen Migrantinnen und Migranten seien, so Rolf Becker, Massnahmen, die die elterlichen Bildungsentscheidungen so beeinflussen, dass leistungsfähige Migrantenkinder das Angebot höherer Bildung auch wirklich nutzen können. Zudem wirkten sich gute Deutschkenntnisse positiv auf den schulischen Erfolg aus. Schülerinnen und Schüler mit besseren Deutschnoten gehen auch eher auf die Sekundarschulen. Deshalb sollten laut Rolf Becker, Massnahmen getroffen werden, die Migrantenkinder darin unterstützen, Deutsch zu lernen.
Migration von Expats
Eine andere Art der Migration, die das Schweizer Bildungssystem ebenfalls herausfordert, wird durch den Zuzug von sogenannten Expats geprägt. Gemeint sind hoch qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland, die mit ihren Familien für ein paar Jahre oder auch länger in die Schweiz ziehen. Im Vergleich zu Schweizer Kindern besucht der Nachwuchs von Expats überproportional häufig das Gymnasium. Wie zum Beispiel die Zuger Zeitung berichtet, nimmt die Zahl der ausländischen Schülerinnen und Schüler an den Zuger Gymnasien zu. Die Zunahme der Expat-Kinder an der Kantonsschule Zug stellt den Schulbetrieb offenbar vor Herausforderungen: «Es gibt je nach Fall kleinere und grössere Hürden zu meistern», sagt Peter Hörler, Direktor der KSZ, gegenüber der Zuger Zeitung. Diese Herausforderungen betreffen den organisatorischen, den administrativen und den sprachlichen Bereich. So müssten etwa bei Schülern und Schülerinnen, die in der Mittelstufe wechseln, aufwendige Abklärungen hinsichtlich der Verträglichkeit des ausländischen Bildungsgangs mit dem hiesigen gymnasialen Profil getroffen werden. Es folgen, so Peter Hörler, ein zeitintensives Aufnahmeverfahren, die Einführung dieser Kinder in das Schweizer Schulsystem und ihre Integration in bestehende Klassenverbände. Expats profitieren nicht nur von hohen Löhnen, sondern oft auch von speziellen Förderangeboten für ihre Kinder, finanziert durch die Arbeitgeber der Eltern. Dadurch entsteht gewissermassen ein Ungleichgewicht zwischen den Schweizer Kindern und jenen von Expats. Durch den starken Zustrom von Expat-Kindern an die Gymnasien leiden zudem die verschiedenen anderen Bildungswege, darunter die Sek oder die Berufsbildung.
Kantonale Integrationsmodelle |
Kanton Zürich: Quims-Schulen Der bevölkerungsreichste Kanton Zürich kennt spezielle Subventionen für Schulen, die einen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund von mehr als 40 Prozent aufweisen. Im Behörden-jargon spricht man hier von Quims-Schulen (Qualität in multikulturellen Schulen). |
Kanton Genf: Kinder 164 Nationen Besonders grosse und schon jahrzehntelange Erfahrung mit der Integration von fremdsprachigen Kindern hat der Kanton Genf. Jahr für Jahr kommen rund 1500 neue Schulkinder in die Calvinstadt, die nicht Französisch sprechen. Insgesamt gehen Kinder aus nicht weniger als 164 Nationen in Genf zur Schule. Jede grössere Schule des Kantons hat deshalb eine Empfangsklasse für fremdsprachige Kinder. In dieser Klasse werden die Schülerinnen und Schüler unterrichtet, bis sie die Sprache einigermas-sen beherrschen. |
Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt: Interkulturelle Pädagogik Die Integrative Schule der beiden Basel verfolgt das Ziel, möglichst alle Kinder in die Regelklassen zu integrieren. Im Kanton Basel-Landschaft werden viele Integrationsfragen auf Kantonsebene angepackt. So ist die interkulturelle Pädagogik ein integrativer Bestandteil der Volksschule. |
Kanton Tessin: Grösstmögliche Chancengleichheit Das Tessiner Schulmodell ist geprägt von einer grösstmöglichen Chancengleichheit während der obligatorischen Schulbildung. Nicht nur werden fremdsprachige Kinder von Anfang an in die «Normalklassen» aufgenommen, auch Kinder mit Lerndefiziten und Lernschwierigkeiten werden nur im äussersten Fall in Spezialklassen geschickt. |
Allianz Chance+ In den vergangenen Jahren wurden verschiedene Förder- programme zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit im Jugendalter entwickelt, zum Beispiel ChagALL Zürich, Chagall Baden, ChaBâle, CHANCE KSR in Reussbühl LU oder CHANSON St.Gallen. Im Frühjahr 2021 haben sich diese Förderprogramme und die damit verbundenen Institutionen (Sekundarschulen, Berufs- und Berufsmittelschulen, Gymnasien und Pädagogische Hochschulen) zur Allianz Chance+ zusammengeschlossen. Die Allianz Chance+ verfolgt das Ziel, nachhaltig für Chancen- gerechtigkeit im Jugendalter einzutreten. Sie will das Praxis-wissen aus den Förderprojekten mit Erkenntnissen aus der soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung kombinieren. |
www.chanceplus.ch |