Artikel / Themen

Lernen für die Welt von Morgen

Wie muss Schule sein, um Kinder fürs Leben zu wappnen? Was geben wir Kindern fürs 21. Jahrhundert mit? Und was können Eltern und Lehrpersonen tun, damit unsere Kinder gut durch schwierige Zeiten kommen? Diesen und anderen Fragen ist die Psychologin Verena Friederike Hasel auf den Grund gegangen.

Bild: ImageFlow/shutterstock.com

Warum muss Schule sich ändern?

In den kommenden Jahren wird künstliche Intelligenz immer mehr Aufgaben übernehmen. Viele Jobs werden dadurch obsolet, neue werden entstehen.

Darauf müssen unsere Kinder vorbereitet sein. Noch erfüllt Schule diese Aufgabe zu wenig. Kürzlich fragte ich meine Töchter, ob sie in der Schule schon «Chat GPT» oder DALL-E ausprobiert haben. Das eine ist ein Chatbot, der selbst Texte schreibt, das andere ein Programm, das in Sekunden Bilder im gewünschten Kunststil produziert. Nein, sagten sie beide. Sie hatten «Schule wie immer». Ich finde, es ist höchste Zeit, damit aufzuhören, «Schule wie immer» zu machen. Wie kann man künstlicher Intelligenz selbstbewusst begegnen? Diese Frage muss unser Handeln leiten und wir dürfen unsere Kinder nicht mit Methoden von gestern auf die Welt von morgen vorbereiten.

Was muss also konkret geschehen?

Wichtig ist, dass wir uns mehr mit den sozioemotionalen Fähigkeiten von Kindern beschäftigen. Denn sie wird uns kein Algorithmus so schnell nachmachen. Ein Stichwort in diesem Zusammenhang ist Shared Attention – das ist die Fähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit. Um Shared Attention zu erfahren, müssen wir erleben, wie es ist, sich gemeinsam auf eine Sache zu konzentrieren, zusammen etwas zu tun, sich mit einem anderen über etwas zu freuen. Man findet sich in solchen Momenten zusammen in etwas Drittem und erfährt Verbundenheit. Hat man mit Kindern zu tun, sollte die Förderung von Shared Attention, egal ob zu Hause oder in der Schule, eines der Lernziele sein, denn die Schwierigkeiten unserer Zeit werden wir nur meistern, wenn wir gemeinsam handeln.

Sie erwähnen in dem Buch drei Eigenschaften, die laut dem World Economic Forum zentral für die kommenden Jahrzehnte sind: kritisches Denken, Entschlusskraft und Innovationsfreude.

Das ist so – ich würde die Liste aber gern noch ergänzen. In unserer Welt besteht die einzige Sicherheit darin, mit Unsicherheit umgehen zu können. Dazu brauchen unsere Kinder Ambiguitätstoleranz, das ist die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zur Kenntnis zu nehmen und zu ertragen. Zudem benötigen sie Vertrauen – sowohl zu anderen als auch zu sich selbst – sowie Verantwortungsbewusstsein.

Als Psychologin beschäftigen Sie sich intensiv damit, wie es Kindern geht – wie ist es um ihre Psyche bestellt?

Weltweit leidet jedes siebte Kind, das zwischen 10 und 19 Jahren alt ist, an einer psychischen Krankheit, und unter den 15- bis 19-Jährigen ist Selbstmord die vierthäufigste Todesursache. Die Kinder sind also in Not, zugleich warten viele Herausforderungen auf sie. Das heutige Leben ist oft Stückwerk, verläuft selten gradlinig, viele Biografien weisen etliche Brüche auf. Was unsere Kinder brauchen, ist genug psychische Stabilität, um all die Veränderungen und Richtungswechsel und Neuausrichtungen zu bewältigen, denen sie viel öfter ausgesetzt sein werden als die Generationen vor ihnen. Und wenn wir das schaffen, wenn wir ihnen beibringen, dass man Brüche kitten kann, dann haben wir viel erreicht.

Welche Rolle spielt da die Schule?

Studien belegen, dass schon Babys äusserst kompetent sind, zum Beispiel schon früh ein Verständnis von Zahlen entwickeln oder ihre Muttersprache erkennen. Das ist die eine Seite. Andererseits sind zwei Drittel aller Zehnjährigen auf der Welt nicht in der Lage, eine einfache Geschichte zu lesen. Einer internationalen Studie zufolge, die 2023 veröffentlicht wurde, fehlen auch in einem wohlhabenden Land wie z. B. Deutschland jedem vierten Kind in diesem Alter grundlegende Lesekenntnisse.

Was passiert da und warum?

Ich befürchte, dass Schulen nicht so beschaffen sind, wie sie sein müssten, damit Kinder ihr Potenzial ausschöpfen können, und dass sie sich grundsätzlich wandeln müssen, wenn wir unsere Kinder krisenfest machen wollen.

Und wie soll das Ihrer Meinung nach geschehen?

Während meiner Recherchen für mein Buch «Das krisenfeste Kind» besuchte ich einige herausragende Schulen in Finnland und auch Deutschland, die ihre Klassenzimmer zu Orten machten, an denen Neugier auf die Welt, aber auch Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten geweckt werden. Manche davon haben Sozioemotionales Lernen als Fach, andere haben den Unterricht nach draussen in den Wald verlegt, aber trotz aller Unterschiede haben sie eine Gemeinsamkeit: Sämtliche Schulen, an denen ich zu Gast war, nehmen eine wichtige psychologische Erkenntnis ernst, die oft ignoriert wird. Der Selbstbestimmungstheorie von Edward Deci und Richard Ryan zufolge sind Menschen motiviert, falls drei Grundbedürfnisse erfüllt sind: Kompetenz, Autonomie und Verbundenheit. Was mich ausserdem in Finnland sehr beeindruckt hat, ist das Vertrauen, das zwischen Schule und Elternhaus herrscht.

Bei uns ist es oft so, dass sich Eltern und Lehrpersonen quasi gegenüberstehen – und in der Mitte ist das Kind, das von beiden Seiten unter Druck steht.

Das sollte sich wirklich ändern. In Zeiten, in denen Lernen nicht mehr an einen Ort gebunden ist, sondern überall stattfindet und es nicht um Algebra und Französisch allein, sondern um die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit geht, dürfen sich Schule und Zuhause nicht mehr misstrauisch gegenüberstehen, sondern müssen – zum Wohle des Kindes – eng zusammenarbeiten. Gemeinsam müssen wir Kindern zeigen, was Lernen bewirken kann. Im Hirn eines Menschen, der etwas entdeckt, durchdringt und begreift, wird der Neurotransmitter Dopamin freigesetzt. Und Dopamin macht nicht nur für den Moment glücklich, sondern weckt auch das starke Verlangen nach mehr. Mit anderen Worten: Wer einmal erlebt hat, wie toll Lernen ist, wird immer wieder lernen wollen.