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Freiraum schaffen – Zeit für mich

Als Eltern ist die Zeit, die man für eigene Bedürfnissen nutzen kann, häufig knapp. Dabei wären regelmässige Freiräume wichtig, um Stress und andere Symptome vorzubeugen. Eine gute Planung allein reicht jedoch nicht, um für mehr Freiräume im Familienalltag zu sorgen.

© Bild: simona pilolla 2/shutterstock.com

Freiraum hat Jan Holler aus Bern so ab 22 Uhr abends sowie als Frühaufsteher am Morgen, wenn die Kinder noch schlafen. «Ich habe nicht das Gefühl, mir mehr Zeit erkämpfen zu müssen», sagt der Familienvater und beruflich Selbstständige. Während er als Selbstständigerwerbender mit einem 50-Prozent-Pensum tätig ist und sich in der übrigen Zeit um Familie und Haushalt kümmert, arbeitet seine Frau zu mehr als hundert Prozent in der Bundesverwaltung. «Wir leben bewusst eine umgekehrte Rollenverteilung. Dabei erlebe ich das, was sonst Frauen und Mütter im Familienalltag empfinden – nämlich, dass man nur für andere da ist.» Manchmal habe er schon das Bedürfnis nach mehr Freiraum. Trotzdem wolle er sich nicht beklagen, betont Jan Holler. Mit dem zunehmenden Alter der Kinder, die mittlerweile 14 und 17 Jahre alt sind und die Oberstufe absolvieren, habe der Betreuungsaufwand sowieso stark nachgelassen. «Seit der Oberstufe ist das Familienleben für uns als Eltern entspannter geworden.»

Eigene Bedürfnisse kommen zu kurz

«Das Bedürfnis vieler Eltern nach Freiraum, wo sie ihre eigenen Bedürfnisse stillen können, ist gross», stellt Sandra Valerie Walther aus Thun, Alltagscoach für Eltern, Jugendliche und Kinder, fest. «Leider kommen diese Bedürfnisse im Alltag meist zu kurz.» Familien entwickelten ihre eigenen Dynamiken. In der Regel sind mehrere Personen und Bedürfnisse involviert. «Das ist normal und menschlich. Eltern sind sich dessen häufig bewusst, jedoch ist es selten im Bewusstsein verankert. Erfahrungsgemäss führt dies zu Kompensationshandlungen, die das Gefüge der Familie verschieben», erklärt die Coaching-Fachfrau. Laut einer Umfrage des deutschen Meinungsforschungsinstituts Forsa stehen fast 40 Prozent der Eltern sehr häufig bis häufig unter Stress. Schuld daran sind vor allem die hohen Ansprüche an sich selbst. Schliesslich will man als Eltern, als Partner und im Beruf gleichermassen perfekt sein. Die grössten Stressfaktoren für Mütter und Väter sind die Erziehung und Betreuung der Kinder sowie der Stress am Arbeitsplatz. Für knapp ein Drittel der Befragten ist die Belastung im Haushalt zu hoch. Die grösste Herausforderung ist es, Familie, Haushalt und Beruf unter einen Hut zu bekommen.

Vor allem bei Kleinkindern

Alles dreht sich um die Kinder – auch die Gespräche. Vom ersten Zahn über die Wahl der Spielgruppe oder die Transportorganisation für das nächste Fussballspiel des Sohnes am Wochenende. Rund um die Kinder gibt es viel zu erzählen und viele Probleme zu lösen. Die eigenen Themen, Gefühle und Bedürfnisse bleiben dabei nicht selten auf der Strecke. Der Wunsch nach mehr Freiraum als Mutter, Vater oder als Paar sei vor allem bei Kleinkindern am grössten. Laut einer Studie von betreut.de wird das Problem, nicht den passenden Babysitter zu finden, besonders häufig von Eltern mit Kindern in der Altersgruppe 0 bis 3 genannt (30 Prozent). «In dieser Phase erhält alles, was nicht mit dem Kind zu tun hat, eine weniger hohe Priorität», beobachtet Sandra Valerie Walther immer wieder. Diesem Muster sollten sich die Eltern im Idealfall schon vor der Geburt ihres Kindes bewusst sein. «Natürlich ist es schwierig zu erahnen, wie es mit dem Kind einst sein wird. Doch je klarer die eigenen Vorstellungen darüber sind, wie man gemeinsam den Alltag als Familie gestalten will, umso einfacher fällt dann die konkrete Umsetzung.» Ein wichtiger Teil eines solchen Prozesses sollte unter anderem sein, sich zu überlegen, wie man die eigenen Bedürfnisse berücksichtigen kann. Dies bedeute, sich der eigenen Wahrnehmung zu stellen und ein gewisses Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Körperliche und psychische Folgen

Wie weit die eigenen Bedürfnisse zum Zug kommen, sei in vielen Familien immer noch eine Frage des Geschlechts, sagt Sandra Valerie Walther. «Bei den Frauen steht das Kind im Fokus. Die Männer schaffen es besser, ihre eigenen Bedürfnisse auszuleben. Dagegen bedauern die Männer, dass die Beziehung zu ihrer Frau und das Leben als Paar zu kurz kommen.» Zu einem Beratungsgespräch kommt es meist erst dann, wenn zum Beispiel die Beziehung der Eltern zum Kind leidet, die Schulleistungen des Kindes nicht mehr stimmen oder wenn es in der Beziehung als Paar zu einer Krise gekommen ist. Je nach Schweregrad der Belastung können auch psychische Probleme wie zum Beispiel ein Burn-out die Folge sein. Eine Datenanalyse in Deutschland der KKH Kaufmännische Krankenkasse zeigt, dass die Fehlzeiten im Beruf aufgrund psychischer Erkrankungen in den vergangenen Jahren stetig gestiegen sind – von durchschnittlich 35,4 Tagen im Jahr 2015 auf 39,1 Tage im Jahr darauf. In der Umfrage sagten darüber hinaus knapp ein Drittel der stark gestressten Eltern, dass sie wegen des hohen Drucks schon einmal niedergeschlagen beziehungsweise sogar depressiv waren. Bevor es zu schwerwiegenden psychischen Erkrankungen kommt, macht sich der Stress zunächst im Verhalten und auf der körperlichen Ebene bemerkbar. Er äussert sich durch extreme Anspannung, niedrige Frustrationsgrenze, Ungeduld, Schlafmangel und Schmerzen. Laut Umfrage stehen Erschöpfung und Burn-out klar an erster Stelle: 79 Prozent der dauergestressten Eltern gaben an, unter Druck darunter zu leiden. 77 Prozent nannten Nervosität und Gereiztheit und 75 Prozent Müdigkeit oder Schlafstörungen als Folgen von Stress. Jeweils knapp die Hälfte hat darüber hinaus mit Kopf- bzw. Rückenschmerzen zu kämpfen und 29 Prozent der stark gestressten Eltern schlägt der Druck auf den Magen. Gut zwei Drittel der Mütter und Väter gaben ausserdem an, sich bei Stress mindestens hin und wieder schlecht konzentrieren zu können. Rund jeder Zweite sagte, unter Druck schnell aggressiv zu reagieren. Ebenfalls die Hälfte erklärte, in Stresssituationen hin und wieder traurig zu sein oder sich zurückzuziehen.

Fixe Planung von Freiräumen

Doch wie verschafft man sich als Eltern den gewünschten Freiraum für die eigenen Bedürfnisse als Mutter, Vater oder Paar? Ist wirklich alles nur eine Frage der Organisation? «Ja, aber nicht nur», gibt Sandra Valerie Walther zu bedenken – denn: «Vieles läuft tatsächlich über das Schaffen von Strukturen im Alltag, über die richtige Zeitplanung und über das Anmelden von Bedürfnissen.» Doch: «Oftmals scheitern diese Vorhaben an den vielen Herausforderungen im schwer planbaren Familienalltag.» Trotzdem plädiert die Beraterin dafür, Strukturen im Familienalltag unbedingt einzuhalten und den vereinbarten Freiraum zu nutzen. Am einfachsten zu erreichen sei dies mit der fixen Planung von Freiräumen für die Mutter und den Vater, indem zum Beispiel der Dienstagabend fest für die Mutter und ihr Hobby reserviert ist und der Vater jeden Freitagabend seinem Sport frönen kann. «To-do»-Listen können zudem helfen, zu überlegen, was man tun muss und tun möchte. Solche Listen schaffen mehr Platz im Kopf und machen es einfacher, den Überblick über alle täglichen Aufgaben und Termine zu behalten. Weiter schlägt Sandra Valerie Walther vor, auch mal ein gemeinsames verlängertes Wochenende als Paar zu reservieren und ein paar Ferientage alleine zu verbringen. «Solche Fixpunkte setzen natürlich eine gute längerfristige Planung voraus.»

Stundenplan und Hausaufgaben

Trotz aller Planung gibt es externe Einflüsse wie Schulstundenpläne, die den Wunsch nach mehr Freiraum und Zeit für sich einschränken. Jan Holler machte sich als Co-Präsident von S&E Kanton Bern und Präsident des Kreiselternrates Breitenrain-Lorraine vor drei Jahren stark für ein neues Stundenplanmodell in ihrem Schulkreis. Zuvor begann der Unterricht für manche Klassen bereits in den untersten Stufen um 7.30 Uhr, für andere erst um 8.20 Uhr. «Mit mehreren Kindern in der Familie brachte diese Zeitplanung viel Unruhe mit sich. Für Berufstätige ist der Schulstart um 8.20 Uhr zudem sehr spät», kritisiert Jan Holler. Deshalb stellte er im Namen des Elternrates den Antrag beim Kanton für die Abschaffung dieser Stundenpläne und schlug als Alternative eine durchgehende Schulzeit zwischen acht und 12.10 Uhr vor. «Dies erhöhte die Vereinbarkeit von Familie, Schule und Beruf. Die Kinder kommen am Nachmittag früher nach Hause und haben mehr Zeit für Hobbys. Die Eltern können ihr Berufsleben besser planen.» Der Elternrat kämpfte weiter für die Abschaffung von Hausaufgaben im Rahmen des Lehrplans 21. Im Schulkreis Breitenrain-Lorraine läuft derzeit noch ein Schulversuch mit diesem Modell. «Wenn die Kinder zu Hause keine Hausaufgaben machen müssen, bedeutet dies für die Eltern weniger Stress und mehr Zeit fürs Familienleben», sagt Jan Holler und rechnet damit, dass in den nächsten Jahren weitere Schulstandorte im Kanton dieses Modell ebenfalls übernehmen werden.

Hindernisse und Stolpersteine

Neben Stundenplänen und dem unberechenbaren Familienalltag, der stets mit neuen Überraschungen aufwartet, gibt es noch weitere Stolpersteine, die manchen Eltern den Weg zu mehr Freiraum versperren. Dazu zählen zum Beispiel Smartphones: Zum einen können sie für Eltern ein Segen sein, indem man Freunde oder Grosseltern um Rat oder Unterstützung anfragt oder nach lehrreichen Informationen im Internet sucht. Zum andern jedoch entpuppen sich Bildschirme auch als zeitraubend. Das gedankenlose Scrollen durch Social-Media-Feeds braucht oft mehr Zeit, als man sich bewusst ist. Seit Corona arbeiten manche Väter und Mütter gewisse Tage von zu Hause aus. Das bringt viele Vorteile mit sich – aber ebenso einige Nachteile: Der Beruf ist omnipräsent, im «Homeoffice» sollte man möglichst durchgehend erreichbar sein. Da fällt es vielen schwer, Freiräume einzuplanen und sich von der Arbeit zu distanzieren. Die finanzielle Frage ist natürlich für viele ebenfalls ein wichtiger Aspekt, wenn man als Elternpaar zum Beispiel in den Ausgang gehen will. Babysitter sind nicht günstig, und wenn man nach einem Abend mit zwei Essen, Getränken und Kinotickets dem Babysitter noch 40 Franken in die Hand drücken muss, kann die ganze Nummer kostspielig werden. Und schliesslich die emotionale Seite: Wie findet man zwischen Windeln, Fläschchen und Lätzchen – oder später nach Fahrdiensten zwischen Schule, Musikunterricht und Sporttraining – auch noch Musse für den Partner oder die Partnerin?

Freiräume gemeinsam nutzen

Für eine gute Planung des Familienlebens empfiehlt Sandra Valerie Walther, Rituale einzubauen, bei denen die Eltern die bevorstehende Woche oder gar den ganzen Monat besprechen. Dazu gehöre auch das Vorsehen von Freiräumen. «Es ist wichtig, dass man als Elternpaar Freiräume auch gemeinsam nutzt», betont der Coach. Während dieser Zeit können zum Beispiel die Grosseltern, das Gotti oder der Götti auf die Kinder aufpassen. Warum nicht in dieser Zeit mal etwas Neues ausprobieren? Zum Beispiel eine Stadt, die man noch nicht kennt, besuchen, einen Kinofilm ansehen, sich gegenseitig beim Stadtbummel Kleidung aussuchen oder ein unbekanntes Restaurant ausprobieren. Gemeinsame Hobbys und gemeinsame Zeit schaffen eine Verbindung, gemeinsame Erinnerungen und tragen zu einer stabilen Verbindung als Paar bei.

Mit Ich-Botschaften kommunizieren

Nicht allen Menschen fällt es jedoch leicht, die eigenen Bedürfnisse auszudrücken und für mehr persönlichen Freiraum einzustehen. Umso wichtiger sei die Art der Kommunikation, findet Sandra Valerie Walther: «Ich empfehle, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle mit Ich-Botschaften auszusprechen und Man- oder Du-Botschaften zu vermeiden. Gleichzeitig hilft es, wenn man sagt, wie man sich fühlt.» Weiter sollte man sich Zeit nehmen für solche Gespräche und diese nicht zwischen Tür und Angel führen. «Dadurch entstehen mehr Gelegenheiten, sich anzuschauen, auf sich zu hören und zusammen zu reden.» Vom bewussten Umgang mit Freiräumen im Familienleben profitieren schlussendlich alle, ist Sandra Valerie Walther überzeugt: «Dies bringt mehr Ruhe ins Familienleben. Und die Eltern dienen auch hier ihren Kindern als Vorbild, indem sie ihre Bedürfnisse klar aussprechen.»

www.elternrat-bern.ch
www.readytobefree.ch

Tipps für mehr Freiraum als Eltern

  • Einen Kalender nutzen: Tragen Sie in Ihrem Tagesplaner oder Kalender Zeiten ein, die Sie mit sich selbst verbringen wollen.
  • Weniger ist mehr: Nehmen Sie sich kleine Auszeiten im Tag – zum Beispiel 15 Minuten Spazieren oder Lesezeit für ein Buch.
  • Auch mal nein sagen: Manchmal kann man nur Zeit für sich gewinnen, indem man anderen Menschen gegenüber Grenzen setzt und auch mal nein sagt.
  • Störquellen ausschalten: Schliessen Sie mögliche Ablenkungen durch Handy, Computer, E-Mails usw. aus.
  • Ruhezeiten nutzen: Stehen Sie eine halbe bis eine Stunde früher auf als alle anderen und nutzen Sie diese Zeit für sich – etwa für ein paar Yoga-Übungen oder Pflegerituale im Bad. Alternative: Machen Sie etwas früher Feierabend, wenn noch niemand anderes wieder zu Hause ist.
  • Gemeinsame Freiräume: Gönnen Sie sich als Paar regelmässige gemeinsame Stunden, die Sie fix im Kalender einplanen und rechtzeitig vorher mit Kinderhütedienst organisieren.

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Als Elternorganisation der deutschsprachigen Schweiz vertritt Schule und Elternhaus Schweiz (S&E) auf nationaler Ebene die Anliegen der Eltern zu Themen rund um die Schule – und dies seit über 60 Jahren. S&E Schweiz fördert zusammen mit den kantonalen, regionalen und lokalen Sektionen die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Schule, Behörden und Eltern. S&E ist Patronatgeber des Berufswahl-Portfolios.

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