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Externe Impulse gegen Hausaufgaben- und Prüfungsstress

Immer mehr Kinder nehmen ausserschulische Lernangebote wie Nachhilfeunterricht oder Lerncoaching in Anspruch. Diese haben zum einen das Ziel, Wissenslücken zu schliessen, aber auch Lernstrategien zu vermitteln und das Selbstwertgefühl zu stärken.

Studien zeigen: Mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen empfinden Hausaufgaben als anstrengend und stressig. Und auch viele Eltern brauchen beim täglichen Eiertanz rund um Hausaufgaben und Prüfungen gute Nerven. Zu diesem Ergebnis kam eine Umfrage des Forschungsinstituts Forsa. Als ehemaliger Primar-und Oberstufenlehrer kennt Romeo Pfammatter die Herausforderungen vieler Kinder und Eltern rund ums Lernen. In seiner Zeit als Lehrer führte der gebürtige Walliser einmal pro Woche ein obligatorisches Schüler-Lehrer-Gespräch ein. Darin konnten die Schülerinnen und Schüler über ihre persönlichen Anliegen und Sorgen sprechen. «Diese Gespräche zeigten mir zum einen, wie wichtig es für die Kinder und Jugendlichen ist, ihre Gefühle auszusprechen, und zum andern, wie prägend eine gute Beziehung zwischen Kind und Lehrperson für die Lernbereitschaft ist», berichtet Romeo Pfammatter. Diese Erkenntnis habe ihn dazu veranlasst, sich zum Lerncoach weiterbilden zu lassen. Heute arbeitet Romeo Pfammatter, der im Nebenfach Theologie und Ethnologie studierte, im Auftrag der Römisch-katholischen Kirche Bern-West im Angebot «Lernavanti» als Lerncoach. Das ausserschulische Lernangebot richtet sich an alle Kinder, unabhängig ihrer Konfession. 70 Prozent der Kinder, die das Angebot in Anspruch nehmen, haben laut Romeo Pfammatter einen muslimischen Glauben. «Lernavanti ist ein diakonisches Projekt und in unserer Region sehr willkommen. Mich interessieren nur das Kind und sein Lernhintergrund», betont der Lerncoach.

Innerlich resigniert

Die Gründe, dass Kinder und Jugendliche das Lerncoaching bei Romeo Pfammatter in Anspruch nehmen, sind vielfältig. Sie reichen von mangelnder Motivation oder Konzentration über lückenhafte Kompetenzen rund um Lesen, Schreiben und Rechnen bis hin zu falschen Lernstrategien oder  Prüfungsangst. «Viele Kinder, die zu mir kommen, haben ein mangelndes Kompetenzgefühl, was häufig einhergeht mit einem negativen Selbstwertgefühl im Sinne von ‹Ich bin nicht gut genug› ». Wenn dann seitens der Lehrpersonen oder Eltern noch wenig Anerkennung hinzukomme, könne dies zu vermehrtem Stress oder Frust in der Schule führen. «Deshalb ist es ganz wichtig, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten das Gefühl bekommen, gesehen und gehört zu werden. Das Epizentrum der Lernmotivation ist die Beziehung», so Romeo Pfammatter.

Funktionale und psychologische Ebene

Wie geht der Lernberater in solchen Fällen vor? «Ich stärke das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen in ihren Kompetenzen, indem ich ihnen Lernstrategien vermittle, die effizient sind.» Oftmals hapere es bei vielen Kindern an mangelnder Organisation und Planung; sie lernen zu viel auf einmal und erst noch im letzten Moment. «Mit einfachen Lernstrategien kann ich den Schülern und Schülerinnen helfen, erfolgreich zu lernen. Das ist motivierend. Manchmal reichen aber Lernstrategien nicht, denn nicht selten ist etwa das Aufschieben psychologisch bedingt: Gründe dafür seien Druck, Versagensangst oder Konzentrationsprobleme. Natürlich komme bei manchen auch die Bequemlichkeit in die Quere, die Ablenkungsmöglichkeiten heute mit den digitalen Medien sind, so der Lerncoach, enorm gross. Hier beginnt das Lerncoaching. «Ich möchte, dass das Kind gestärkt aus der Beratung hervorgeht», betont Romeo Pfammatter, der beim Verein ElternLehre Kurse für Lehrpersonen und Eltern zum Thema «Lernen ohne Drama» durchführt. «Manchmal kommen wir zwei Schritte vorwärts und gehen dann wieder einen Schritt zurück. In jedem Fall steht die gute Beziehung zu den Schülern und Schülerinnen  im Zentrum.»

Lernvideos für Rechnen, Lesen und Schreiben

Als zusätzliche Unterstützung zum Lerncoaching hat Romeo Pfammatter in Zusammenarbeit mit Experten aus der Akademie für Lerncoaching Zürich und der ElternLehre Bern (elternlehre.ch) Lernvideos entwickelt. Sie können von Eltern und Kindern einfach angewendet werden und vermitteln ihnen, wie man entspannt und kurzweilig die Grundfertigkeiten trainieren kann. So arbeitet Romeo Pfammatter unter anderem mit repetitiven Aufgaben und Ablenkungsfragen – zum Beispiel  zum Mittagessen –, um die Lösung im Langzeitgedächtnis zu speichern. «Kann ein Kind zum Beispiel blitzschnell das Einmaleins im Kopf rechnen, wird ihm das Rechnen im Allgemeinen leichter fallen, weil der gesamte Schulstoff auf diesen Grundfertigkeiten aufgebaut ist», begründet der Lerncoach.

Mathematik und Deutsch

Wie Romeo Pfammatter sind auch Stefan Füchslin und Roland Zehnder Lehrpersonen. Und auch sie engagieren sich mit ausserschulischen Lernangeboten für Schülerinnen und Schüler, die zusätzliche Unterstützung bei Hausaufgaben und Prüfungen benötigen. «Wir kennen uns bereits aus der Gymi-Zeit», erzählt Stefan Füchslin. Damals verdienten sich beide mit Nachhilfestunden ein Zubrot. Vor 18 Jahren kamen sie auf die Idee, mehr daraus zu machen, und gründeten die AHA-Nachhilfe GmbH in Wädenswil. Anfänglich arbeiteten die beiden hauptsächlich als Lehrpersonen auf der Sekundarschulstufe und betrieben ihr Unternehmen als «Hobby», wie Stefan Füchslin schmunzelnd erzählt. Mittlerweile sei es beinahe umgekehrt. Das Nachhilfezentrum bietet an insgesamt neun Standorten rund um den Zürichsee ihre Dienstleistungen für Kinder und Jugendlichen von der Primarschule bis ans Gymnasium an. Begleitet werden sie von Studierenden aus verschiedenen Fachrichtungen. Die grösste Nachfrage besteht laut Stefan Füchslin in den Fächern Mathematik und Deutsch.

Steigender Bedarf

In den letzten Jahren sei der Bedarf an Nachhilfeunterricht laufend gestiegen. Die Gründe dafür sieht Stefan Füchslin jedoch nicht etwa im immer schwieriger gewordenen Schulunterricht – eher das Gegenteil sei der Fall –, sondern vor allem deshalb, weil der Druck auf die Kinder stetig wächst, vonseiten der Schule und der Eltern. «Viele Kinder wollen oder müssen ins Gymnasium. Weil den Eltern oft die Zeit oder die Nerven fehlen, mit ihren Kindern zu lernen, kommen wir ins Spiel.» Ausserdem beobachtet Stefan Füchslin, dass die Kinder heute über weniger Selbstkompetenz und Kreativität im Umgang mit dem Schulstoff verfügten als früher. «Wenn gewisse Prüfungsfragen etwa anders formuliert werden als gewohnt, fühlen sich viele Schülerinnen und Schüler bereits überfordert.»

Stufengerechte Nachhilfe

Ein guter Nachhilfeunterricht soll den Kindern und Jugendlichen zeigen, wie sie ein Thema methodisch angehen und verarbeiten können. In diesem Sinne sei Nachhilfe – so Stefan Füchslin – auch Lerncoaching. Ansonsten biete der Nachhilfeunterricht stufengerechte Unterstützung in allen Fächern. «Wichtig ist, dass die Chemie zwischen Nachhilfelehrperson und Kind stimmt», betont Stefan Füchslin. Die meisten Schülerinnen und Schüler merkten bald, wie sie von der Nachhilfe profitieren und arbeiten motiviert mit. Je nach Kind, seiner persönlichen Lernthemen und der Häufigkeit des Nachhilfeunterrichts  brauche es im Durchschnitt etwa drei Monate, bis sich erste Verbesserungen bemerkbar machen. Auch die Eltern können diesen Prozess unterstützen, indem sie – falls vom Kind erwünscht – zu Hause ebenfalls beim Lernen Hilfe anbieten. Ansonsten dürfe man das Kind ruhig auch alleine arbeiten lassen und ihm so das nötige Vertrauen schenken, betont Stefan Füchslin.

Soziale Interaktion mit Menschen

Ein relatives neues ausserschulisches Lernangebot riefen Roman Bühler und drei weitere Mitgründer, allesamt Familienväter, vor drei Jahren ins Leben: die digitale Tutoring-Plattform avidii. Die Idee dazu entstand aus der Erkenntnis heraus, dass sich viele Kinder und Jugendliche bei schulischen Fragen Impulse aus dem Internet holen, indem sie viel Zeit auf Youtube verbringen. Doch: «Diese Art von Lernen verhilft nur begrenzt zu einem individuellen, nachhaltigen Lerneffekt, da standardisierte, vorgegebene Lösungsschritte konsumiert werden. Auch der Nutzen von Lerncontent-Apps sei begrenzt. «In beiden Fällen fehlt jemand, der den Kindern das Thema erklärt und auf ihre Fragen eingeht.» Avidii verbinde die Idee einer jederzeit, flexible verfügbaren Lernplattform mit der Möglichkeit der sozialen Interaktion mit Menschen. Laut Roman Bühler, sei das daraus entwickelte «Instant-Tutoring» keine klassische Nachhilfe, wie es avidii vor allem bei grösseren Lernlücken anbiete, sondern unterstütze die Kinder und Jugendlichen bei punktuellen Lernherausforderungen – als Hilfe zur Selbsthilfe. «Unserer Erfahrung nach ist der Lerneffekt und die Motivation weiter zu lernen am grössten, wenn die Kinder dann Hilfe erhalten, während sie unmittelbar am Thema dran sind», berichtet Roman Bühler.

500 Tutorinnen und Tutoren

Die rund 500 Tutorinnen und Tutoren von avidii stehen zwischen 9 und 23 Uhr zur Verfügung, wenn eine Schülerin oder ein Schüler gerade zu einem bestimmten Thema dringend eine klärende Unterstützung benötigt. Man wählt sich ins System ein, formuliert die Fragestellung oder lädt ein Bild der Aufgabe hoch. Anschliessend sucht das System innerhalb einer Minute die geeigneten Tutorinnen und Tutoren aus. Spannend dabei: Die Zuordnung passiert nicht nur aufgrund des Themas, sondern berücksichtigt ebenso andere Gemeinsamkeiten wie etwa Lerntyp, Alter oder Hobbys. In der Interaktion mit dem Tutor oder der Tutorin wird die Aufgabe dann live über den Bildschirm, inklusive Whiteboard, oder im Chat besprochen. «Die Tutorinnen und Tutoren sollen den Kindern Mut machen, die Lösung aus eigener Kraft zu erarbeiten», sagt Roman Bühler. Denn nicht selten sei nicht die Aufgabe an sich das Problem, sondern das fehlende Vorwissen dazu.

Rekrutierungsprozess

Bei den Tutoren handelt es sich in der Regel um Studierende. Diese wurden im Vorfeld laut Roman Bühler im Rahmen eines Rekrutierungsprozesses fachlich, didaktisch und sozial geprüft. «Die Tutorinnen und Tutoren müssen gut zuhören können und in der Lage sein, sich in das Kind hineinzufühlen und das Thema aus seiner Perspektive im Dialog zu erklären.» Neben der Schweiz betreibt avidii auch Lernplattformen in Deutschland und Indien. Weitere Länder seien derzeit in Planung, darunter Polen, Spanien und England sowie der Nahe Osten.

www.lernavanti.ch

www.aha-nachhilfe.ch

www.nachhilfe-lotusacademy.ch

Schule und Elternhaus Schweiz: «So wenig wie möglich»

Aus der Sicht von Schule und Elternhaus Schweiz sollte eine ausserschulische Lernunterstützung dem Kind helfen, sein Potenzial zu entfalten, jedoch nicht auf guten Noten gedrillt zu werden. «Wir plädieren für so wenig Unterstützung wie möglich», betont die S&E-Co-Präsidentin Gabriela Heimgartner. Denn: «Zu viel Unterstützung kann bewirken, dass die Kinder in der Schule weniger aufpassen.» Weiter sollten ausserschulische Lernangebote stets die Hilfe zur Selbsthilfe im Fokus haben, Lernstrategien vermitteln, Hilfe bei der Organisation bieten und auf Prüfungen vorbereiten. Kinder, die keine Unterstützung der Eltern haben, sind oft auf externe Hilfe bei Hausaufgaben oder vor Prüfungen angewiesen, ebenso Kinder mit Lernschwierigkeiten. «Auch Kinder mit Wissenslücken brauchen meist ein Lerncoaching, um diese Lücken zu schliessen und den Anschluss im Lehrplan nicht zu verpassen», sagt Gabriela Heimgartner.