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Doppelt ehrlich: Von einer Zwillingsmutter zur anderen

Auch wenn es in der Schweiz jährlich etwa 1400 Mehrlingsgeburten gibt – Zwillinge sind nach wie vor etwas Besonderes. Entsprechend gross ist die Neugier von aussen. Wie sehr gleichen, worin unterscheiden sie sich? Ist es nun doppeltes Glück oder zweifache Belastung? Egal, wie die Reaktionen von aussen ausfallen: Die Erfahrungen, die man als Zwillingsmutter oder -vater macht, könnten wohl so manche Bücher füllen, wie das nachfolgende Gespräch zwischen der Zwillingsbloggerin Melanie Baunemann und Redaktorin Manuela Bruhin verrät.

Bild: © NataSnow/shutterstock.com

Melanie, du bist Mama von mittlerweile fünfeinhalbjährigen Zwillingen. Wie alle Zwillingsmütter kannst du dich bestimmt noch an den Moment erinnern, als es beim Ultraschall hiess: «Da sind zwei Babys».

Tatsächlich. Und ich habe mich direkt gefreut. Die Freude wurde aber relativ schnell gedrückt, als es hiess, das Eine sei ein bisschen zu klein – man müsse beobachten, wie sich die Schwangerschaft weiterentwickelt. Aber so ist es leider oftmals, wenn man mit Zwillingen schwanger ist – überall liest und hört man nur von den Gefahren.

Das habe ich auch gemerkt. Am besten, man stöbert während dieser Zeit nicht mehr so oft im Internet.

Das stimmt. Während meiner Schwangerschaft habe ich es mir wirklich abgewöhnt, im Internet zu lesen. Überall wurde von Risikoschwangerschaften berichtet, bei welchen irgendetwas schief ging. Dabei verlief meine Schwangerschaft ganz normal, mit einigen Wehwehchen. Dennoch hatte ich, weil ja Zwillingsschwangerschaften per se als Risikoschwangerschaft eingestuft werden, viel mehr Kontrollen als üblich. Und irgendwie findet man dann immer etwas, was man im Auge behalten muss, was verunsichert oder gar ängstigen kann.

Die Erfahrung habe auch ich gemacht. Was mich aber deutlich mehr gestört hat, waren die Reaktionen des Umfelds. Jeder wusste von einer «Bekannten», die eine «Nichte» hatte, deren «Kollegin» mit Zwillingen schwanger war. Eines davon starb entweder während der Schwangerschaft, kam mit einer Behinderung zur Welt – oder so ähnlich.

Oh je, weshalb erzählen die Leute das denn? Diese Erfahrung habe ich Gott sei Dank nicht gemacht. In meinem Umfeld haben sich eigentlich alle gefreut. Wir haben Zwillinge in der Familie, deshalb ist es vielleicht bei uns anders. Aber natürlich gab es die eine oder andere komische, lustige oder schräge Begegnung mit Aussenstehenden.

Genau. Plötzlich musst du mit einer völlig Fremden über deine Familiensituation reden oder darüber, weil ja grundsätzlich alle Zwillinge «künstlich erzeugt» wurden. Wie kommen die Menschen darauf? Nein, das ist natürlich nicht so!

Ja, manchmal wissen die Leute wirklich nicht, was sie mit ihren Worten auslösen können. Ich kann mich noch an eine Frau erinnern, als meine Kinder ganz klein waren. Sie sagte zu mir, dass auch sie eine Zwillingsmutter sei und sie, als ihre Kinder vier Jahre alt waren, ein Burn-out hatte. Ich solle deshalb besonders gut auf mich achtgeben. Diese Worte haben mich noch lange begleitet.

Das kann ich mir vorstellen. Hat es dich gestresst, dass du, gerade wenn die Kinder noch klein sind und man mit dem riesigen Zwillingswagen vorfährt, häufig unfreiwillig im Mittelpunkt standest?

In manchen Fällen leider ja. Ich bin oft mit den Kindern raus, weil sie im Kinderwagen einfach so schön geschlafen haben und ich mal für einige Minuten durchatmen konnte. Vielleicht war die Nacht davor katastrophal oder es hing permanent jemand an mir. Umso mehr genoss ich es, den Kopf zu lüften und einen Moment für mich zu haben. Da war es manchmal schon nervig, ständig angesprochen zu werden. Klar, die Leute meinten es nicht böse. Aber nicht immer hat man Lust, alles immer wieder und wieder zu erklären oder zu erzählen.

Dennoch hast du dich dazu entschlossen, deine Erfahrungen mit anderen zu teilen und einen Blog zu schreiben.

Genau. Einfach aus dem Gedanken heraus, dass man sich nicht vor einer Zwillingsschwangerschaft fürchten muss. Überall wird nur von den Gefahren berichtet, darüber, was schief gehen kann. Dass es aber auch ganz, ganz viele Fälle gibt, in denen alles gut läuft, das gerät in den Hintergrund. Mit meinem Blog will ich andere ermutigen.

Wenn du dich zurückerinnerst: Hast du es dir denn so vorgestellt, wie es ist?

Ganz ehrlich: Ich hätte es mir einfacher vorgestellt. Ich habe mir im Vorfeld keine genauen Vorstellungen darüber gemacht, wie es ist, Zwillinge zu haben. Aber ich dachte, hey, das kriege ich doch gewuppt.

Das hast du doch auch.

Ja, sicher. Aber machen wir uns nichts vor: Es ist nicht immer einfach, permanent zwei Babys zu haben, ihren Bedürfnissen und Ansprüchen gerecht zu werden. Im Gegenteil. Es kann sehr schwierig sein.

Ja. Du gibst ständig 100 Prozent – aber es reicht trotzdem nicht. Weil da ja zwei Kinder sind.

Genau, so ist es. Wenn du ein Baby hast, kannst du dich voll und ganz diesem widmen. Bei Zwillingen musst du dich aber häufig entscheiden: Wer hat gerade das grössere Bedürfnis? Und der andere muss warten. Das ist für eine Mutter überhaupt nicht einfach. Man lernt mit der Zeit, dass sich das Ganze wieder ausgleicht.

Wie meinst du das?

Vielleicht braucht dich Baby A jetzt gerade mehr, weil es Schmerzen hat oder am Zahnen ist. Dafür wechselt es in einigen Tagen – über einen längeren Zeitraum hinweg gleicht sich das wieder aus. Beide erhalten wohl in etwa die gleiche Aufmerksamkeit. Aber wenn du gerade in der Situation drin steckst, ist es nicht einfach, das zu akzeptieren.

War das zugleich auch deine grösste Herausforderung?

Ja, ich denke schon. Diese Wachstumsphase, wenn beide geschrien haben und an mir geklebt sind. Keine fünf Minuten für dich zu haben. Keiner von beiden kann warten, weil sie noch zu klein sind, um es zu verstehen. Das hat mich extrem gefordert und an die Grenzen gebracht.

Gleichzeitig bist du aber auch daran gewachsen.

Ja, und das ist ein schöner Gedanke. Ich habe irgendwann gemerkt, wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte, dem einen oder anderen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben: Es hat nichts mit Liebe zu tun, sondern mit der jeweiligen Situation. Einer von beiden braucht mich gerade mehr. Das ist situationsbedingt. Und ändert auch wieder.

Bist du froh, dass deine Kinder mittlerweile aus dem Gröbsten raus sind?

Hmm, eine schwierige Frage. Klar, ich geniesse es, dass sie mir mitteilen können, was ihnen wehtut oder welches Bedürfnis sie gerade haben. Aber wenn ich mich an die Babyzeit zurückerinnere, ist da auch gewisser Wehmut dabei. Einfach deshalb, weil ich mich nie ganz bewusst auf ein Baby konzentrieren konnte. Gefühlt sind die ersten Jahre an mir vorbeigeflogen. Wenn ich andere mit einem Baby beobachte, merke ich, wie sie sich einfach ganz anders Zeit nehmen können.

Da kommt dann häufig der Kommentar von aussen: «Ich habe auch zwei Kinder mit ganz kleinem Altersabstand, das sind ebenfalls wie Zwillinge.»

(Lacht laut) Genau! Die Bemerkung zeigt einfach auf, dass man das nur verstehen kann, wenn man selbst Zwillinge hat. Es ist absolut nicht dasselbe, wenn man Geschwisterkinder mit kleinem Altersabstand hat.

Das sehe ich genau so. Es ist völlig anders, ob sie «nur» Geschwister sind oder eben Zwillinge – ich habe ja beide Erfahrungen gemacht. Als Zwillingsmutter hast du viele Herausforderungen zu meistern, die andere nicht haben – und man selber muss sich auch ständig neu sortieren, weil man die überhaupt nicht auf dem Schirm hatte.

Ja, und man hört viel zu wenig auf sein Bauchgefühl. Dabei ist das gerade bei Zwillingen so wichtig. Von aussen wird dir ständig versucht, irgendetwas einzureden, wie du das oder jenes machen sollst – von Leuten, die selber aber gar keine Zwillinge haben. Wir sollten mehr auf unsere Stimme hören, was für uns in der jeweiligen Situation am besten ist. Das geht leider viel zu oft verloren.

Da stimme ich dir zu. Ein Beispiel ist die Schule. Bei uns im Dorf werden Zwillinge bereits im Kindergarten getrennt. Egal, was die Kinder wollen. Die Begründungen der Schulleitung sind sehr fadenscheinig, man geht überhaupt nicht auf die jeweilige Situation ein – sondern entscheidet einfach über die Köpfe der Kinder und der Familie hinweg. Wir mussten viele Gutachten schreiben, Gespräche führen, Arzttermine wahrnehmen, um für das Wohl der Kinder zu kämpfen. Wir mussten uns Dialoge anhören von «Fachpersonen», die im Leben keinerlei Erfahrungen mit Zwillingen hatten – und leider auch überhaupt nicht auf die Situation und das Wohlergehen eingingen, sondern irgendwelche komischen Theorien verfolgen.

Ach nein, das stelle ich mir schlimm vor. Bei uns in Deutschland ist das Gott sei Dank nicht so. Meine Kinder werden das nächste Jahr eingeschult. Und da ist es bisher kein Thema, dass die Beiden getrennt werden müssen. Auch jetzt in der Kita besuchen sie eine Gruppe zusammen. Und es gibt da überhaupt keine Probleme.

Das ist es ja: Wo keine Probleme sind, werden welche gemacht. Und da musst du plötzlich für irgendetwas kämpfen, was andere überhaupt nicht nachvollziehen können. Weil sie gar nie in diese Situation kommen. Es wird lieber an alten Zöpfen und Einstellungen gehangen, anstatt dass die Schulleitung auf die Eltern oder Ärzte hört, die tägliche Erfahrungen haben. Es gibt Zwillinge, da macht es Sinn, dass sie getrennt werden. Genauso gibt es aber auch Kinder, bei denen das überhaupt nicht funktioniert.

Ja, meine Mutter ist ebenfalls ein Zwilling. Und meine Oma hat mir den Rat gegeben, ich solle meine Kinder in der Schule unbedingt trennen. Aber ich höre da lieber auf mein Bauchgefühl. Ich denke nicht, dass sie sich unterdrücken oder gegenseitig konkurrenzieren. Und wie du sagst: Es ist unser Weg. Und wir entscheiden, was das Beste für unsere Kinder ist.

Das waren jetzt die schlechteren Seiten am Leben mit Zwillingen. Worüber freust du dich im Gegenzug am meisten, was andere mit einem Kind nicht kennen?

Über die ganz spezielle Bindung, die wohl nur bei Zwillingen vorkommt. Wenn sie sich gegenseitig trösten, weil einer traurig ist. Wie sie sich knuddeln oder in schwierigen Momenten gegenseitig aufbauen und Mut machen. Oder sich bedingungslos für den anderen freuen, wenn sie etwas gut gemacht hat. Das sind so schöne Momente, die ganz speziell sind. Und wohl nur Zwillingseltern in der Art mitbekommen.

Und Hand aufs Herz: Welche Gefühle hast du, wenn du einen Zwillingskinderwagen auf der Strasse siehst?

(Lacht) Ich finde es schön und freue mich für die jeweilige Mutter oder den Vater. Aber ganz ehrlich: Es ist auch sehr schön, dass ich keinen Wagen mehr vor mir herschieben muss und meine Kinder grösser sind. Es ist eine lange Reise bis zu dem Punkt, wo wir jetzt sind. Und das ist auch gut so. ++

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