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Wie lernen Kinder, ihre Gefühle verstehen?

Was können Eltern dazu beitragen, dass ihre Kinder konstruktiv und befriedigend mit ihren Gefühlen umgehen können? Arena hat verschiedene Fachleute dazu befragt.

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Gefühle sind Reaktionen auf unsere Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und Erfahrungen. Sie sind flüchtig, veränderlich und schwer zu messen. «Emotionen sind viel schwieriger zu fassen als so manche Verstandesleistung, weil sie uns als ganzen Menschen ergreifen. Körper, Geist und Seele sind von Gefühlen durchdrungen», sagt die deutsche Erziehungswissenschaftlerin Charmaine Liebertz, Leiterin der Gesellschaft für ganzheitliches Lernen in Köln. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene wissen nicht immer, wie sie mit Freude, Wut oder Ärger umgehen sollen. Oft lassen Menschen ihre Gefühle ohne zu überlegen raus, wählen Wege wie Angriff oder gar Flucht. «Beide Wege sind destruktiv, produzieren einen- Dampfkessel und im schlimmsten Fall psychosomatische Probleme», meint Gudrun Halbrock, Psychotherapeutin und Buchautorin in Hamburg. «Wenn wir wollen, dass unsere Kinder mit ihren Gefühlen umgehen können, müssen wir Erwachsenen unsere eigenen kennen.» Welche Wege hier zur Verfügung stehen, zeigen die folgenden Interviewtexte. Wichtig ist sicher, hin und wieder den Verstand, sprich den Kopf einzuschalten und seine eigenen Gefühle zu reflektieren. So lernt man sich besser kennen, kann besser reagieren respektive seinen Mitmenschen davon erzählen. Zusätzlich hilft der regelmässige Austausch mit dem Partner oder der Partnerin; so können Wahrnehmungen und Einordnungen überprüft werden. Je häufiger ein Kind in den vielfältigen Situationen des Alltags erfährt, dass seine Gefühlsäusserungen wahrgenommen und ernsthaft beantwortet werden, desto besser lernt es, sich selbst in all seinen Gefühlsschattierungen zu verstehen. Die geschärfte Selbstwahrnehmung wiederum ist eine Voraussetzung, um sich in andere Menschen hineindenken und auf ihre Bedürfnisse reagieren zu können. Eine Fähigkeit, die sowohl für das ganz private Lebensglück als auch im Beruf sehr wichtig ist.

Authentizität ist sehr wichtig

Die Hirnforschung sagt, dass Gefühle Resultat eines unbewussten und automatisch ablaufenden Bewertungsprozesses sind. Wenn ich in eine Situation komme, analysiert mein Hirn die Lage und sendet mir eine emotionale Bewertung. Daraus folgt eine Handlung. Für den Hirnforscher Lutz Jäncke sind Gefühle die Steuermänner unseres Daseins. In der Hirnbiologie existieren zwei Systeme der Handlungssteuerung: die Gefühle sowie der Verstand. Die Reifung des Verstandes setzt erst ab ca. 3 Jahren ein und dauert bis ins Jugendalter.

Kinder haben sehr gute Wahrnehmungen. Sie orientieren sich an den Eltern, weil sie selber noch wenig Erfahrung haben, eine Situation einzuschätzen. Kinder spüren, was Eltern fühlen, wenn Eltern also ihre Gefühle verstecken, wird das Kind verunsichert und es lernt, den eigenen Wahrnehmungen zu misstrauen. Es ist folglich hilfreich, wenn man das Kind in seiner Wahrnehmung bestätigt; es genügt aber, wenn man dem Kind sagt «ich bin im Moment schlechter Laune, traurig oder wütend» und in einfachen Worten erklärt, warum. Zum Beispiel: «Vater hat seine Arbeit verloren, aber wir schauen, dass das wieder gut kommt». Authentizität ist hier von grosser Bedeutung. Wenn Eltern auf sich selber hören, spüren sie sehr wohl, was sie ihrem Kind sagen können und was nicht. Ich mache die Erfah- rung, dass Eltern oftmals zu viel reden, das ist nicht nötig. Wichtig ist: das Kind muss spüren, dass seine Eltern die Lage im Griff haben oder Hilfe holen.

Ziel sollte es sein, dass man beide Systeme nutzt – Gefühle und Verstand. Im Idealfall nimmt man zuerst die Gefühle wahr und analysiert sie mithilfe des Verstandes. Dann überlegt man, wieder mit dem Verstand, was zu tun ist. Im letzten Schritt bewertet man die Lösungsvorschläge mit dem Gefühlssystem und wählt nur solche aus, die für beide Systeme stimmen.

Eltern sollen Gefühle zeigen

Eine stabile Persönlichkeit ist ein wichtiger Schutzfaktor bei der Frage, wie ein Mensch mit Substanzen und Situationen, die abhängig machen können, umzugehen lernt: Alkohol, Tabak, Drogen, Online-Games – um nur einige zu nennen. Wenn man lernt, wie man adäquat mit Gefühlen umgeht, ist das ein wichtiger Schritt; so stärken wir Persönlichkeit und Selbstsicherheit und entwickeln Selbstwert.

In ihren Entwicklungsprozessen orientieren sich Kinder an ihren Bezugspersonen. Eltern dürfen und sollen auch ihren Kindern gegenüber ihre Gefühle zeigen und benennen. Mit Fragen «bist du wütend oder enttäuscht?» helfen Eltern ihren Kindern, auch weniger geläufige Gefühle nuanciert zu erkennen und mit einer altersgerechten Sprache differenzierter zu umschreiben. Durch Geschichten und Märchen lernt das Kind Situationen, Menschen und deren Gefühle, aber auch seine eigenen Empfindungen besser kennen. Am intensivsten können solche erzählten Gefühle dann erlebt werden, wenn Geschichten nicht vorgelesen, sondern frei erzählt werden. Wenn die Eltern dabei emotional mitleben und ihre Emotionen dem Kind auch zeigen, dann wird aus einer einfachen «Märchenstunde» ein Moment des spielerischen Kennenlernens – nicht nur von Geschichten, Gestalten oder Gefühlen, sondern vom Zusammenspiel verschiedener Menschen in verbindenden Beziehungen (siehe Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten, Frankfurt 2011).

Es bräuchte übermenschliche Fähigkeiten, seine Kinder in allen Situationen bedingungslos zu lieben und zu wertschätzen. Und doch: Immer wieder dem Kind das Gefühl zu geben, dass es auch dann willkommen ist, wenn es unerwünschte Gefühle erlebt und äussert, ist für eine gesunde Entwicklung äusserst hilfreich. Aus dieser Grundhaltung heraus Grenzen zu setzen und durchzusetzen sowie Konflikte auszutragen, stärkt beim Kind neben seiner Konfliktfähigkeit vor allem auch sein Vertrauen in seine Bezugspersonen und in sein eigenes Empfinden.

Gefühle bei Kindern mit Autismus Irrtümlicherweise hört man immer wieder, Kinder aus dem Autismus-Spektrum würden keine Emotionen empfinden oder seien gefühllos. Die Schwierigkeit für Kinder mit Autismus besteht darin, dass ein Gefühl ein komplexer körperlicher Vorgang ist, bei der physische wie auch psychische Reaktionen sowie deren Wahrnehmung und die Verknüpfung mit einer bestimmten Situation zusammenspielen. Die Wahrnehmung von Reaktionen des Körpers wie auch die Verknüpfung mit Situationen ist für Kinder mit Autismus schwierig. Zudem macht es einigen Kindern grosse Mühe, ihre Körpersprache, Mimik und Gestik richtig einzusetzen, um ein inneres Gefühl nach aussen zu zeigen. Genauso schwer oder noch schwerer ist es für Kinder mit Autismus, die Gefühle anderer Menschen einzuordnen. Weil Kinder mit Autismus oft die Tendenz haben, sich auf gewisse Details eines Gesichtes (z.B. Stirn oder Nase) zu fokussieren, fällt es ihnen schwer, Gesichtsausdrücke richtig zu deuten. Um dann zu verstehen, weshalb das Gegenüber so empfindet, müssen sie zudem die soziale Situation in ihrer Gesamtheit erfassen, was ihnen oftmals schwerfällt. Erwartungsgemäss auf die Gefühle anderer zu reagieren ist eine grosse Herausforderung, wenn man die Gefühle und Handlungen anderer nicht einordnen kann.

Britische Forscher rund um den Autismus- Forscher Simon Baron-Cohen haben erst kürzlich ein Programm entwickelt, das Kindern mit Autismus bei der Wahrnehmung und Einordnung von Emotionen helfen soll. Sie entwickelten unter dem Namen «The Transporters» eine Reihe von animierten Filmen. Darin wird anhand von Fahrzeugen mit Gesichtern jeweils eine bestimmte Emotion in verschiedenen Kontexten dargestellt. Ziel dabei ist es, die Kinder mit den Gesichtern und den verschiedenen Emotionen vertraut zu machen. Eine DVD in der deutschen Fassung ist seit Kurzem erhältlich.

Kinder müssen ihre Gefühle kennen und ausdrücken lernen

Vor zehn Jahren gründeten wir das Heidelberger Präventionszentrum (HPZ), das unter anderem die Faustlos-Programme anbietet. Wir entwickelten diese Präventionsprogramme, mit dem Ziel, die sozialen Kompetenzen bei Kindern zu fördern. Seither bieten wir diese wissenschaftlich fundierten Curricula in über 10’000 Schulen und Kindergärten in Deutschland, Österreich und der Schweiz an und führen begleitend dazu auch Elternfortbildungen durch.

Der inhaltliche Fokus all unserer Angebote liegt auf der Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen. Mittels Faustlos helfen wir den Kindern in einem ersten Schritt, ihre Gefühle zu erkennen und zu benennen, denn für die Kleinen gibt es am Anfang nur die Gefühle «gut» oder «schlecht». Wir stellen ihnen mittels Fotografien Basisgefühle wie Freude, Wut, Ärger, Trauer, Ekel oder Überraschung vor. Diese Gefühle dürfen dann spielerisch ausgedrückt werden. Wir zeigen, dass Gefühle etwas ganz Normales und Schönes sind. Letztlich handelt es sich in vielen Faustlos-Lektionen um eine intensive Wahrnehmungsschulung, die in Rollenspielen vertieft wird. Die Kinder lernen dabei, über Gefühle zu sprechen, diese auszudrücken, und im Alltag auf ihre Gefühle (und die der anderen) zu achten. Nicht Wut oder Ärger sind das Problem, sondern das Verhalten aufgrund von Wut oder Ärger kann problematisch sein. Häufig ist es besser, Ich-Botschaften zu verwenden, statt jemanden zu beschimpfen, und so bringen wird den Kindern z.B. bei, dass es besser ist «Ich bin wütend» zu sagen, als «Du bist doof und gemein».

Um die Eltern einzubinden, bieten wir begleitend zu den Faustlos-Programmen ein entsprechendes Elternseminar an. In diesem Seminar werden die Kerninhalte von Faustlos vermittelt, und die Eltern erfahren, wie sie die faustlosen Kompetenzen ihrer Kinder zu Hause gezielter mitfördern können, und zudem profitieren die Eltern auch hinsichtlich ihrer eigenen Beziehungskompeten

Mangelhaftes gesellschaftliches Bewusstsein über Erziehung

Intuitives Handeln ist weit verbreitet, entweder unreflektiert oder aus der Überzeugung, es sei richtig, aus dem Bauch heraus zu handeln. Die Ansicht, es sei richtig, seine Gefühle rauszulassen, um sich, im Falle negativer Gefühle, von diesen zu befreien, bewirkt genau das Ge- genteil, nämlich eine Steigerung der negativen Gefühle, die zu heftigen Streitereien führen können oder sogar zu gewalttätigem Handeln gegen Gegenstände oder Personen. Eltern sollten sich, in ihrem eigenen Interesse und zum Wohle ihrer Kinder, zu Emotionstrainern ausbilden lassen. Besonders geeignet ist das STEP-Konzept (Systematisches Training für Eltern und Pädagogen). Das Konzept ist auch in der Schweiz etabliert.     In meinem Buch «Maximilian will Papa werden»  habe ich mehrere kindgerechte und spielerische Methoden beschrieben: z.B. Das «Gute-Nacht-Ritual» und das Glückskindspiel. Natürlich können auch Gefühle schauspielerisch dargestellt und erraten werden. Einfacher ist es, besonders bei jüngeren Kindern, zunächst mit Kasperlipuppen, Spielfiguren oder Tierfiguren sowie Plüschtieren, Gefühle in Form kleiner Geschichten zu zweit oder zu mehreren zu spielen.

Erziehen wird der Beliebigkeit und dem Experimentieren der Eltern überlassen. Manche Mütter setzen aus Sorge, Fehler zu machen, den Kindern keinerlei Grenzen. Oder Väter betrachten ihre Kinder als ihr Eigentum. Ihre Kinder sollen sich ihnen unterordnen und mit herausragenden Leistungen glänzen, was sie selbst nicht geschafft haben.

Wenn es Eltern nicht gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und gegenseitigen Respekt und Gemeinsinn zu fördern, verlieren sie spätestens in der Pubertät ihren Einfluss auf ihre Kinder. Sie müssen dann mit ansehen, wie ihre Sprösslinge zu Bildungsverlierern werden oder gar auf Abwege geraten.

Ohnmächtige Eltern

Fühlen sich Eltern häufig ohnmächtig, besteht die Gefahr, dass sie ihre «elterliche Präsenz» verlieren. Wir stellen folgende Fragen: Sind Eltern zu streng oder haben eine wenig führende Erziehungshaltung, passt das Kind mit seinem Temperament zu den Eltern, welche Unsicherheiten bestehen bei Vater oder Mutter über sich selbst? Mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen und unserem Fachwissen gehen wir mit einer offenen, fragenden Haltung auf Eltern zu, um mit ihnen gemeinsam zu schauen, was in ihrer Familie los ist. Welche Bilder haben sie von guten Eltern, und woher haben sie diese Bilder? Wie würden sie ihren Erziehungsstil beschreiben, wie laufen Interaktionen unter den Eltern und zwischen Eltern und Kindern ab? In welchen Momenten haben sie das Gefühl, wirksam zu erziehen? Kurz, wir machen uns gemeinsam ein Bild der Stärken und Schwächen der Eltern und den Voraussetzungen ihrer Kinder.

In einem nächsten Schritt geht es darum zu formulieren, was die Eltern brauchen, um die Interaktionen mit den Kindern und Jugendlichen anders (und wirksamer) gestalten zu können. Je nach Situation geht es dann in kleinen Schritten in Richtung Veränderung. Wichtig ist dabei der Grundsatz, dass man nur das eigene Verhalten ändern kann, nicht direkt das Verhalten eines Kindes oder eines Partners. Erfahrungsgemäss hat eine Verhaltens- oder Haltungsänderung Auswirkungen auf alle. Eltern sollten sich fragen, was will das Kind mit seinem Verhalten zum Ausdruck bringen? Kann man das Kind verstehen, ihm helfen, sich selber zu verstehen? Verstehen heisst aber nicht, dass dann ein Verhalten in Ordnung ist. Es muss klar sein, was tolerierbar ist und was nicht.

Die Rubrik „Arena“ ist eine Kooperation mit Pro Familia Schweiz. Infos zum Familien – Portal: www.profamilia.ch