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Appendix zur Glosse „Unter Schutzatmosphäre verpackt“

Gerade in unserer Zeit wird manch einem Kind, ohne groß nachzufragen, mit aller Hingabe vermittelt, dass es nur überleben kann, wenn es sich vor Allem und Jedem schützt, am Besten alles Unangenehme und „Gefährliche“ vermeidet und deshalb natürlich aktuell auch permanent Abstand zu möglichen Virenverbreitern – früher auch „Mitmenschen“ genannt – halten muss! Eine ziemlich kalte Welt für Kinder, will ich meinen! Dafür aber bombensicher! Doch es geht auch anders…

Bild:©realpeople/shutterstock.com

Vermeidungs-Trigger

Damit Sie von Herzen verstehen können, warum ich mich dieses sehr heiklen Themas angenommen, schauen wir nochmals kurz bei Julian und seinem Apfelbaum vorbei: Nach Mamas Warnung: „Fall nicht herunter!“ hört Julians Gehirn exakt das, was es aufgrund tief verankerter evolutionärer Prägungen einfach hören muss: Gefahr kommt auf! Darum wiederholt Julians Unterbewusstsein ab jetzt immer wieder die Warnung: „Herunterfallen, herunterfallen!“ Ob unserem wackeren Klettermaxe genau deswegen diese kleine Unachtsamkeit passiert ist? Wir werden es nicht erfahren, es sei denn, Mama probiert es beim nächsten Mal und fortan schmunzelnd andersherum: „Hey! Jules! Wie gut kannst dich dort oben lebensverlängernd festhalten?“
Klingt doch ganz anders, oder? Schon das Schmunzeln der geliebten Mutter trägt zum Einsetzen des kindlich Ehrgeizes zur Lebensverlängerung bei. Massiv sogar!

Erkenntnis: Just der Aktionismus des Vermeiden-Wollens führt oft zum Gegenteil! Die unerwünschte Situation kann sich beschleunigen. Stichwort: „Trigger“

Sie erinnern sich? Mama Paula ist entsetzt, als sie ihr vierjähriges Söhnchen Conny so wild mit seinem Stöckchen schwingen sieht. Verletzungsgefahr!

Doch auch hier macht´s der kindgerechte Umgang mit der Gefahr aus! Was Paula vermeiden will, wird durch ihren Eingriff und das anschließende Verbot nicht besser. Irgendwann wird der Kleine, eben weil es ihm verboten wird – und auch, weil das für Buben eben sehr typisch ist – unbeobachtet mit irgendeinem langen Stöckli schwingen und vielleicht auch Jemanden damit „erwischen“.
Klar: Was man nie verwenden durfte, kann man auch nie ganz gefahrlos einsetzen.

Mit Paula habe ich folgendes geübt: Sie nimmt gelassen wahr, wenn Conny grade mal seinen „schwunghaften Tag“ hat und schreit nicht mehr spontan die aufkommende Gefahr in die Welt hinaus! Jetzt macht sie zum ersten Mal etwas Unglaubliches: fragen! Sie nimmt Blickkontakt auf und legt los: „Schönes Stöckli! Darf ich´s dir zeige?“ Dann führt sie ruhig Connys Hand und zeigt ihm, wie er links und rechts schaut, und erst dann mit der Fuchtlerei beginnt. Und sie zeigt ihm auch, wie man einen schnellen Schwung noch schneller stoppt. Das üben sie ein paar Mal. Besonders schön: Einmal hat Mom selber einen Stab aufgesammelt und kurz „mitgemacht“.
Wild, aber doch achtsam! Toll mitanzusehen!

Jetzt kann Conny zwar immer noch mit Stöcklis herumhauen, aber eins kann er besonders gut: Blitzartig Abstoppen, wenn ihm etwas zu nahe kommt! Darauf ist er sehr stolz, weil seine Mama das auch ist!

Liest sich das nicht viel entspannter? Klingt das noch gefährlich? Nein? Dann probieren Sie es doch behutsam selbst aus!

Sie werden es mögen!

Zur Person

Gerhard Spitzer, Heilpädagoge und Verhaltensforscher, Erfolgsautor und Seminar-Kabarettist, schreibt regelmässig und exklusiv für den FamilienSPICK, um seinen reichhaltigen «kindgerechten» Erfahrungsschatz zum Thema Erziehung mit Eltern, Lehrern oder einfach Interessierten zu teilen. Und das stets mit einem Augenzwinkern, denn: «Wenn man Spass an einer Sache hat, dann nimmt man sie auch ernst.» (Gerhard Uhlenbruck)