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ADHS – (A)lles (D)och nur (H)alb so (Schlimm)?

«Ja, ich bin eines von denen. Ein mühsames Zappelkind, das sich für alles interessiert, jedoch schnell das Interesse verliert, sobald das Neue nicht mehr neu ist.» Petrouska Mosimann aus Solothurn hat ADHS. Die 41-jährige Grafikdesignerin begleitet die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung seit ihrer Kindheit.

Bild: Suzanne Tucker/shutterstock.com

Alles begann mit unlogischen Rechenaufgaben und einer ablenkenden Fliege im Klassenzimmer. Ein Gespräch mit einer Frau mit ADHS. Petrouska Mosimann erzählt offen, persönlich und mit Humor über ihre Kindheit mit ADHS.

Petrouska Mosimann, schon in den ersten Schulstunden merkten Sie, dass Sie sich anders verhielten als Ihre Mitschüler. Wie hat sich dies geäussert?

Meine Lehrerin in der zweiten Klasse mochte mich nicht. Ich sie auch nicht. Klappe nie zu, ein Puff auf dem Pult, und ich habe mich von einer Fliege ablenken lassen. Das Puff auf dem Pult musste ich mehrmals täglich aufräumen. Für mich war das aber kein Puff, sondern eine Anordnung von Dingen, die für mich wichtig war. Das leere Pult hat mich nämlich unglaublich irritiert. Und das leere Pult war auch der Grund dafür, dass ich mich nicht auf mein Schreibheft konzentrieren konnte. Weil der Pelikan-Leimstift links hingehörte, das Etui da, die Stifte da, etc. Mich hat diese Anordnung beruhigt und mir irgendwie Sicherheit gegeben.

Und was war mit der Fliege, die Sie ablenkte?

Kann mir jemand erklären, was an Sätzen wie «Lisa spielt mit dem Ball» interessanter sein soll als an einer Fliege? Lisa soll von mir aus mit dem Ball spielen. Aber warum schafft es die Fliege, auf dem senkrechten Fenster zu stehen? Und warum ist sie so unglaublich blöd und fliegt in die Fensterscheibe, sieht sie denn das Fenster nicht? Mal ehrlich: Was ist interessanter? Streng gesagt hat man also ADHS, wenn man Fliegen interessanter findet als Lisa und den Ball. Schlimme Krankheit, oder?

Wie konnten Sie mit Zahlen umgehen?

Die Zahlen waren auch ein Thema. Genau wie «Lass es doch einfach gut sein». Im Schweizerdeutschen gibt es dafür die Redensart «s’Füfi mau lo grad si». Dieser Satz hat mich wahnsinnig gemacht. Fakt ist: 5 ist eine Primzahl, und solange man nichts addiert, subtrahiert, multipliziert oder dividiert, ist und bleibt es eine 5. Und die ist nun mal nicht gerade. Punkt. Vielleicht stand ich nachher da und hab etwas dumm in die Welt geschaut. Da hiess es schnell, ich sei etwas komisch, oder vielleicht auch einfach etwas blöd. In meiner wunderbaren bunten Welt hab ich hin und her überlegt, wie man die 5 genau hätte gerade bekommen können. Und mein Fazit war ebenfalls: Die müssen irgendwie ein bisschen komisch oder blöd sein.

Waren Sie auch sonst anders als andere Kinder?

Ich wurde als Kind schnell wütend und aggressiv, scheinbar und ohne ersichtlichen Grund. Für mich, gab es aber tausend Gründe. Dieser ewige Lärm war – und ist – unglaublich laut. Nein, es ist nicht so, dass Menschen mit ADHS besser hören, sie können die Geräusche nur schlechter filtern. Für mich war es immer extrem anstrengend, Geräusche zuzuordnen. Ein Traktor fährt vorbei, wunderbar: Ist ein Traktor. Null Problemo! Aber da waren immer noch unzählige andere Geräusche. So geriet ich stets in Rage, wenn jemand laut schluckte, laut atmete oder Gott bewahre: irgendein Rascheln eines Bonbonpapiers in einer unbekannten Hosentasche.

Wie konnten Sie dieses Problem mit den Geräuschen in den Griff bekommen?

Wenn ich mich auf was konzentriere, höre ich laut Musik. Oder schaue laut Fernsehen. Das sind Geräusche, worüber ich mir keine Gedanken machen muss. Schlafen war auch immer ein Problem. Da es in meinem Kopf gewittert, lag ich oft stundenlang wach im Bett und hab vor mich hin studiert – unter anderem über die 5, die eben nicht gerade ist. Die Lösung war früher Kasperlitheater hören, da war ich nach 10 Minuten eingeschlafen. Nun sind es halt Hörbücher. Und weil ich mich voll darauf konzentriere, wird das Gewitter in meinem Kopf ausgeblendet.

Konnten Sie als Kind still sitzen?

Das war leider immer ein grosser Kampf. Mich an einen Tisch zu setzen und Hausaufgaben machen. Erst im erwachsenen Alter habe ich herausgefunden, dass ich für verschiedene Aktivitäten verschiedene Orte brauche. Wenn ich z. B. was rechnen muss, setze ich mich an den Küchentisch, wenn ich was schreiben muss, in meine Werkstatt. Jeder Raum hat seine eigene Energie. Und nein, das ist keine Esoterik. Farben, Formen und Gerüche geben einem Raum Charakter und somit auch eine eigene Energie. Der eine Raum gibt den Zahlen Platz, der andere den Buchstaben.

Was halten Sie von der Behauptung «ADHS gibt es gar nicht!»?

Die Berichte darüber, dass ADHS erfunden sein soll, machen mich ranzig. Ebenso, dass es von denen, die es nicht für erfunden halten, als «Krankheit» deklariert wird.

Haben Sie durch ADHS auch klare Vorteile?

Es fällt mir leichter, mich schriftlich auszudrücken, da sich in meinem Gehirn eine Million Dinge auf einmal mitteilen möchten. Aber meine Mails, SMS und Berichte sind unglaublich lang. Sie umfassen meist aber dennoch nur einen Bruchteil von dem, was ich eigentlich mitteilen möchte. Dennoch: Ich mag mein ADHS, das hab ich schon immer. Jedoch finde ich die Bezeichnung unpassend. «Aufmerksamkeitsdefizit». «Sone Seich!» Ich kann mich 200 % auf eine Aufgabe einlassen. Dies bedeutet ein Ausmass an Einsatz und Energie für eine Sache, die für viele ganz einfach nicht mehr nachvollziehbar ist. Oft wird mir gesagt, «lass es doch gut sein», aber nein, das will ich nicht. Weil ich mein ADHS mag, und weil ich alles bis ins kleinste Detail wissen will. Wie erklärt man den Hunger nach Wissen? Keine Ahnung. Ich würde aber nicht unbedingt behaupten, dass es krank ist, nur weil es für andere nicht nachvollziehbar ist.

In welchen Situationen steht Ihnen das ADHS im Weg?

Jede Gabe bringt natürlich auch eine Bürde mit sich. Vor vielen Jahren hatte ich so meine Mühe mit dem ständigen Gewitter im Kopf. So war ich gerade am Geschirrspülen, als mir einfiel, ich sollte noch meine Bettwäsche waschen. Währenddessen fand ich, der Müll müsse raus. Währenddessen fiel mir auf, dass ich Hunger habe. Beim Essen fand ich, ich müsse duschen. Während des Duschens merkte ich, der Briefkasten sollte noch geleert werden. Das Resultat: Chaos!!! Geschirr nicht ganz gespült, Bettwäsche in der Waschmaschine aber Waschmaschine nicht eingeschaltet, Müll im Treppenhaus auf halbem Weg stehen gelassen, Sandwich in der Dusche verspeist. Ich verstehe einen Grossteil der gesellschaftlichen Konventionen nicht und bin für andere deshalb unabsichtlich oft «unpassend». Glücklicherweise rechnet man mir diese Fauxpas mehrheitlich als schlechten Humor oder schlechte Laune an. Es vergeht jedoch kein Tag, an dem ich nicht befürchte, die Kündigung auf dem Tisch zu haben oder jemanden ungewollt zu kränken.

Hatten Sie mal ärztliche Unterstützung?

Mit 20 Jahren ging ich zu einer Psychologin, die mir mit Gesprächen, Übungen und Begleitungen geholfen hat. Und ich habe ein Jahr lang Ritalin genommen. Ritalin hat mir die Möglichkeit gegeben, Strukturen zu lernen und beizubehalten. Mein Gehirn hat es seit 17 Jahren nicht vergessen, weil es Gelerntes speichert. Das blieb auch nach dem Absetzen von Ritalin so.

Was halten Sie davon, dass heute immer mehr Kinder immer früher abgeklärt werden?

Ich bin absolut dagegen, dass man Kinder, welche nicht nach Gebrauchsanweisung funktionieren, mit Medikamenten vollstopft, um sie ruhigzustellen. Die Abklärungen bei Auffälligkeiten finde ich persönlich jedoch sehr sinnvoll. Aber man sollte Kindern die Möglichkeit geben, diese vier Buchstaben als Gabe zu verstehen, nicht als Krankheit. Und ich bin der Meinung, dass man ADHS nicht wegsperren kann. Es muss seinen Platz haben. Ihr sagt alle, dass eure Kiddies draussen so richtig aufdrehen und richtige Rabauken sind. Na hoffentlich! Ich hatte mal ein «auffälliges» Hüetimeitschi – mit dem ging ich manchmal in den Wald «Füüüüdle» schreien. So laut wie’s geht. Ja, ich auch. Danach sein zufriedenes Grinsen zu sehen, war mehr wert als alles andere auf der Welt. Vielleicht hilft es manchen Kindern mehr, wenn man die Wildsau fördert, anstatt sie einzusperren.

Wie gehen Sie heute mit Ihrem ADHS um?

Nun, übereifrig bin ich geblieben und ich kann dem sehr viel Gutes abgewinnen. Und glücklicherweise gibt es in meinem Leben auch viele Menschen, die zwar keine ADHS-Spezialisten sind, mich jedoch so nehmen, wie ich bin und einfach mal sagen: «PEACH GOPFRIDSCHTUTZ! Ma grad nid!» ++