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Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) immer en Vogue

Überlegungen und Wünsche von Dr. Alessia Schinardi.

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Am 2. April war Autismus-Welttag mit unzähligen Events „worldwide“, aber auch in der Schweiz, zu eben diesem Anlass. Nur einen davon will ich erwähnen, der sich durch seine Dauer auszeichnet: die „Artism“-Ausstellung der Asperger AG, die vom 01.-22. April in Zürich stattfindet.

Wenn ich zurückblicke hat sich an meiner Sicht auf das Thema ASS in den letzten 5 Jahren viel verändert. In erster Linie ist die Hemmschwelle zu Autismus-Abklärungen generell gesunken. In meiner Praxis sehe ich immer jüngere Kinder, die dank der frühzeitigen Diagnose früher gefördert werden und schneller Fortschritte in Rahmen des Spektrums machen können vom frühkindlichen Autismus (bsp. fehlende Sprachfähigkeit noch mit 4 Jahren) Richtung Asperger. Kürzer ist auch das Zögern der Familien, wenn bei einem Erwachsenen der Verdacht auf ASS besteht: Es melden sich Mütter, Partnerinnen, Geschwister, um ihren Verdacht bestätigen/widerlegen zu lassen.

Mythisierend und unspezifisch

Das Umfeld von echten „Betroffenen“ berichtet häufig beim Erstgespräch spontan (ohne Nachfragen) von Originalsymptomen, die nicht in der Literatur beschrieben werden. Viele Familien/Betroffene haben sich eingelesen, oft durch die Lektüre „populärwissenschaftlicher Literatur“ und haben sie sich im Beschriebenen wiedererkannt. Viele haben Formulare im Internet ausgefüllt und sind „hochauffällig“. Als Fachärztin erachte ich einen Teil der gängigen Literatur zum Thema Asperger als mythisierend und zu unspezifisch. Den erwähnten „Hochauffälligen“ schlage ich einen „Gegen-Test“ vor: Füllen Sie an einem „schweren Tag“ einen Fragebogen zum Depressionsinventar aus und schauen Sie, ob Sie dazu noch eine Depression haben! Eigentlich wollen die erwachsenen Asperger, nachdem sie sich ein Leben lang ohne Diagnose durchgeschlagen haben, nicht auch noch stigmatisiert werden. Diese Betroffenen werden meist von der Familie zur Abklärung „geschleppt“, beispielsweise weil die Ehe in einer Krise steckt, weil sie den Job verloren haben usw.

Ich finde es hier wichtig zu erklären, dass man an jenem Ende des Autismus-Spektrums, wo sich die Asperger befinden (AUTISMUS ONLY nach Gillberg), nicht mehr von einer Diagnose sondern von einer Asperger-Struktur sprechen sollte. Die Diagnose bzw. das Erkennen der autistischen Struktur ist oft nur der erste Schritt auf einem langen Weg der Anpassung. Die erwachsenen Asperger fangen an, das Leben aus einer neuen Perspektive wahrzunehmen, verstehen dadurch viel mehr von der Welt der Neurotypischen und beginnen, das Leben so zu gestalten, dass ihre Besonderheiten nicht mehr als Mängel erlebt, sondern als Bedürfnisse respektiert werden (so wenig Teamarbeit wie möglich, nicht mit dem Partner leben müssen, keine Reiseferien usw.).

Die Regel, dass sich beim Erwachsenen, je später eine Diagnose erfolgt, sich desto weniger Auffälligkeiten durch die ausgebildeten Ressourcen finden lassen, gilt leider auch umgekehrt: je kleiner die Kinder bei der Diagnosestellung sind, desto auffälliger (AUTISMUS Plus nach Gillberg) sind diese in ihrem Verhalten. Bei Kindern ist die Diagnose der ersten Schritt zur Therapie-Findung, Frühförderung, (Ein)- und Schulungsverfahren bis hin zur Arbeitsintegration.

Wertvolle Mediatioren

Auch heute stellen die Schnittstellen zwischen Frühförderung, Einschulung, Schule, Lehre/Uni und Arbeit fragile Stellen dar, die für viele Betroffene die Gefahr bergen, den Anschluss zu verlieren. Hier ist das Angebot an Strukturen zur Unterstützung bei der Therapie, bei der Ausbildung sowie bei der Arbeitsintegration trotz aller Möglichkeiten immer noch defizitär. Besonders gefragt sind „Dolmetscher“ zwischen der Welt der Neurotypischen und der Welt der ASS. Diese Berater kommen nicht unbedingt aus dem Gesundheitswesen, sind aber wertvolle Mediatoren, die die Familien/Betroffenen von einer Lebensphase zur nächsten begleiten. Veränderungen sind für ASS-Individuen immer problematisch, da sie eine Anpassung erfordern. Je vielfältiger die Veränderungen werden, desto anspruchsvoller sind sie auch (z. B. Schulwechsel, neue Lehrer, neue Kameraden, neuer Schulweg). Dies alles gilt es auf einmal zu bewältigen. Solche Neuerungen überfordern viele dieser „besonderen“ Schüler. Die Erfahrung zeigt, dass eine Begleitung durch einen Mediator mit Autismus-Erfahrung diese Übergänge ebnen kann.

Ich wünsche den Familien mit ASS-Mitgliedern, dass sie die Lücken der Gesellschaft durch die Inklusion bereichern. Uns Neurotypischen wünsche ich, dass wir vom vielfältigen Anders-Sein der Minderheiten (aber nicht Minderwertigen!) lernen. Ich wünsche uns allen, dass wir wie in meiner Inklusionsmetapher der Torta Pasqualina leben lernen: La Torta Pasqualina ist eine typische Wähe Liguriens, die aus verschiedenen Zutaten wie Mehl, Olivenöl, Gewürze, Spinat, Parmesan und Quark, besteht. Vor dem Backen werden mehrere rohe Eier „inkludiert“. Nach dem Backen sind die Eier hart gekocht und fallen mit ihrer weiss- gelben Farbe in der Wähen-Mischung auf. Die Eier werden von einer gemischten Umgebung getragen. Sie fluktuieren im Endeffekt in der Mitte der Torte. Es versteht sich von selbst, dass alle Speisenden sich ein Stück mit Ei wünschen.

Unsere Gesellschaft ist zum Inklusionskonzept bereit. Die Mehrheit muss die Minderheiten jeweils inkludieren, sie tragen ohne sie „normalisieren“ zu wollen. Ein Mensch mit einer Autismusspektrumstörung in die neurotypischen Strukturen zwingen zu wollen, ist genauso sinnvoll, wie von einem Rollstuhlfahrer zu verlangen, dass er läuft.