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Aufklärung in der Schule

Diskussionen rund um die schulische Sexualerziehung sind momentan hochaktuell. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie und ab welchem Alter ein sexualspezifi scher Unterricht in der Schule stattfinden soll.

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Jedes Kind ist ab Geburt ein sexuelles Wesen mit sexuellen Bedürfnissen. Deshalb begleiten Fragen zu seinem Körper, zu seinem Geschlecht, zu seiner Entstehung, zur Geburt und auch zur Sexualität jeden von uns von Anfang an. Als ich selbst noch ein Kind war, redeten Erwachsene vor allem hinter vorgehaltener Hand über «die natürlichste Sache» der Welt. Wirklich Brauchbares über dieses spannende Thema war selten von ihnen direkt zu erfahren.

Deshalb mussten wir uns damals selbst weiterbilden – durch Erfahrungsaustausch mit Freundinnen oder Freunden, im Selbststudium beim «Dökterlen» und später holten wir uns die Informationen aus einschlägiger Literatur. Heute ist das anders: In unserer aufgeklärten Gesellschaft reden Eltern mit ihren Kindern offen und ohne falsche Scham über Sex. Oder etwa nicht? Umfragen unter Kindern und Jugendlichen zeigen ein anderes Bild: immer noch sind Kolleginnen, Freunde oder ältere Geschwister die ersten Ansprechpersonen, gefolgt vom Internet, Eltern und Schule. Dass auch heute noch Fehlinformationen zum Thema kursieren, beweist die Zahl der ungewollten Schwangerschaften, der Abtreibungen und der Ansteckungen mit Geschlechtskrankheiten usw. Jedes Kind hat ein Anrecht auf eine adäquate Aufklärung und auf Antworten auf seine Fragen.

Auch wenn die primäre Verantwortung für die Sexualerziehung bei den Eltern liegt, hat in der Schweiz die Schule den Auftrag, die Eltern bei dieser Aufgabe im Rahmen des Sexualkundeunterrichts alters- und stufengerecht zu unterstützen. Doch was heisst das? Soll nun bereits im Kindergarten mit der schulischen Aufklärung begonnen werden, wie in einigen Medien zu lesen war? Die Deutschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz hält dazu fest, dass die Behauptungen, mit dem Lehrplan 21 solle Sexualkunde bereits im Kindergarten verankert werden, nicht korrekt sind.

Für sie ist klar: Sexualkundeunterricht beginnt in der Regel gegen Ende der Primarschulzeit und wird in der Oberstufe fortgeführt. Die Lehrpersonen behandeln die sensiblen Inhalte mit der nötigen Sorgfalt und werden entsprechend geschult. Wie können also Elternhaus und Schule gemeinsam ihre Aufgaben in der Sexualerziehung, im sexualkundlichen Unterricht wahrnehmen? Darüber haben wir mit Fachleuten diskutiert.

«Umfassende Informationen befähigen zu eigenverantwortlichem Handeln.»

Daniel Kunz, Dozent und Studienleiter MAS Sexuelle Gesundheit im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.

Menschen machen Fehler. Gerade im Zusammenhang mit Sexualität kann dies unumkehrbare Konsequenzen haben: Sexuell übertragbare Infektionen – HIV -, ungewollte Schwangerschaft, sexuelle Gewalt – es bleibt eine Herausforderung, den sicheren und bewussten Umgang mit der eigenen Sexualität zu erwerben. Was die Inhalte und die Vermittlung der Sexualpädagogik heute auszeichnet, ist ihre Erweiterung um die Aspekte der zwischenmenschlichen Kommunikation und der sexualitätsbezogenen Rechte. Viele Eltern möchten die alleinige Hoheit über das Was und Wie, vor allem aber das Wann der sexuellen Aufklärung ihrer Kinder behalten. Sie befürchten eine frühzeitige Sexualisierung oder den Kontakt ihrer Kinder mit Facetten der menschlichen Sexualität, die sie in ihrer Verantwortung als Eltern aus religiösen, moralischen oder anderen Gründen nicht wollen. Das Thema Sexualkunde in der Schule stellt oft Gesellschaft und Familie in einen Gegensatz. Schule und Elternhaus – Ja oder Nein? Diese Fragestellung ist aus meiner Sicht unpassend.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts müsste sie lauten: «Wie sollen in Schule und Ausbildung sexualitätsbezogene Themen angemessen vermittelt werden? Mit Blick auf national wie international geltendes Recht, das Kindern und Jugendlichen den Anspruch auf umfassende Information, beruhend auf wissenschaftlichen Fakten, garantiert, können sich Schule und Berufsausbildung nicht aus ihrer Verantwortung ziehen.» Die Ausbildung von Lehrpersonen zielt darauf ab, die Ängste auf Elternseite ernst zu nehmen und darüber in einen Dialog zu treten. Aufgabe der Schule bleibt, wertneutral und vorurteilsfrei Sexualkunde zu vermitteln und für die Förderung und den Schutz der sexuellen Integrität zu sorgen. Schule und Familie sind keine Konkurrenten, sondern Partner in dem Ziel, Kindern und Jugendlichen zu eigenverantwortlichem Handeln auf der Basis von Information zu verhelfen.

«Sexualaufklärung dauert das ganze Leben.»

Dr. med. Marina Costa, Schulärztin  sowie Leiterin Lust und Frust, Fachstelle für Sexualpädagogik, Zürich.

Die Sexualaufklärung ist ein komplexer Prozess. Eine zentrale Rolle haben die Eltern. Bereits ab der frühen Kindheit werden durch die Eltern, Erziehende, die Medien oder sonstige Quellen vielfältige Werte (geschlechtsspezifische oder anderweitige) und Verhaltensnormen vermittelt. In jeder einzelnen Lebensphase drückt sich Sexualität anders aus und erhält eine neue Bedeutung. Im Allgemeinen lösen sich Kinder innerhalb der ersten 6 Jahre rasch aus ihrer vollständigen Abhängigkeit und erwerben eine begrenzte Unabhängigkeit. Sie werden sich ihres eigenen Körpers bewusst. Kinder haben schon im frühen Alter sexuelle Gefühle. Durch Erkundung sexueller Gefühle und Wünsche sowie durch Fragen lernen Kinder immer mehr über Sexualität und möchten vielleicht auch den Körper ihrer Freunde untersuchen oder ihren eigenen Körper entdecken.

Wenn Eltern bewusst ist, dass diese Phasen normal sind, können sie adäquat damit umgehen und den Kindern eine selbststärkende Erziehung im Elternhaus ermöglichen. Mit dem Eintritt in die Schule sind die Kinder mit verschiedenen Blickwinkeln der Anschauung von Sexualität konfrontiert. Daher sollten in der Sexualaufklärung Fakten vermittelt werden, die ihnen helfen, eine entsprechende Haltung und Kompetenzen zu entwickeln. Selbstrefl exion, Entscheidungsfi ndung und Problemlösung stehen im Mittelpunkt einer qualitativ hochwertigen Sexualaufklärung. Im Rahmen der Sexualaufklärung sollte mit Eltern, Fachpersonen sowie Pädagogen ein Teamteaching entstehen. Eltern sollten an der schulischen Sexualaufklärung beteiligt sein. Sie sollten informiert werden, bevor Sexualaufklärung unterrichtet wird und dabei die Gelegenheit haben, ihre Wünsche und Bedenken zu äussern. Schule und Eltern unterstützen sich gegenseitig im Prozess der kontinuierlichen Sexualaufklärung. Es ist wichtig zu wissen, dass die Sexualerziehung nicht punktuell stattfinden sollte, sondern ein Prozess ist, der das ganze Leben dauert.

«Sexuelle Aufklärung  in der Schule versteht sich von selbst!»

Caroline Jacot-Descombes, Präsidentin von ARTANES, Genf

Welche Erinnerungen behalten Erwachsene in Bezug auf ihre sexuelle Aufklärung und war ihnen diese nützlich? Dies ist eine Frage, die ich mir kürzlich gestellt habe, seit ich im Bereich der Förderung der sexuellen Gesundheit tätig bin. Nun, ich habe einige Freunde befragt und habe dabei grosse Unterschiede festgestellt. Zuerst gibt es Leute, die besonders gesprächig werden bei diesem Thema. Nach dem zweiten Weltkrieg Geborene, jedoch vor Mai 1968, wurden entweder durch ein Manko an Informationen oder durch falsche Informationen, die sie von ihren Eltern oder an der Schule erhalten hatten, geprägt. Beim Erzählen ihrer Erinnerungen stelle ich grosse Emotionen fest. Alle unterstreichen den Fortschritt, der in der Aufklärungsarbeit bis heute erzielt wurde. Dann gibt es die Menschen, die in den Jahren 1960 – 1970 geboren sind und sich an eine Sexualkunde erinnern, die eher einem Anatomiekurs entsprach, bei dem sie sich extrem langweilten, denn die Fragen, die den Kern der Sache betrafen, blieben ohne Antwort. Und dann gibt es die Personen, zu denen ich mich zähle, die vom Sexualunterricht nur eine sehr vage Erinnerung behalten haben.

Oft habe ich mich gefragt, weshalb Leute, die der Sexualkunde, die ich verteidige und die auf einem Austausch basiert, sich nur bruchstückweise daran erinnern. Eine Erklärung drängt sich mir auf: diese Aufklärung ist inzwischen so gut im Unterricht integriert und so «normal», dass sie die meisten Schüler nicht mehr so aufrüttelt, umso mehr, als – wie dies bei mir der Fall war – man auch in der Familie eine sexuelle Aufklärung erhalten hat. Allerdings bringt dieser Unterricht den Schülern wertvolle Antworten auf Fragen, die sie sich zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben stellen. Ob im Jahre 2012 oder 1992: die Fragen sind gleicher Natur und schriftliche Informationen genügen den Kindern und Jugendlichen nicht, um Antworten zu finden, was nur durch den Dialog möglich wird. Deshalb verteidige ich den Sexualunterricht unter der Federführung von ARTANES.

«Verantwortliche und selbstständige Erwachsene werden.»

Anita Cotting, Direktorin von  Sexuelle Gesundheit Schweiz, Lausanne

«Mein Körper gehört mir, ich habe das Recht, Nein zu sagen», sagte meine kleine 6-jährige Enkelin zu mir, als sie nach dem Besuch der Ausbildnerin im Sexualunterricht vom Kindergarten nach Hause kam. Wie könnte man die Wichtigkeit und Richtigkeit der Sexualkunde besser zusammenfassen als durch das grundlegende Bewusstwerden eines Kindes über seine Person und seine Rechte? Wenn ich meine eigene sexuelle Aufklärung betrachte – wenn man bei Wortfetzen, die man zufällig bei einer Lektüre oder Antworten von verlegenen Erwachsenen aufgeschnappt hat überhaupt von Aufklärung sprechen kann -, beobachte ich natürlich hocherfreut, mit welcher Selbstsicherheit sich meine Enkelin positioniert.

Es freut mich zu wissen, dass sie im Verlauf ihrer Entwicklung und dank der Sexualkunde die für sie nötigen Informationen und die Antworten auf die Fragen, die auftauchen werden, erhalten wird. Dabei wird sie Verantwortungssinn entwickeln und lernen, ihre eigene Wahl zu treffen und dies im Respekt der Unterschiede und der Rechte ihrer Mitmenschen. Denn mehr als um Sex geht es für die Spezialisten der Sexualkunde, welche in die Schule kommen, um Beziehungen, um Verhalten, um Werte und um das Selbstverständnis und das Verständnis anderer. Durch eine absolvierte Ausbildung haben sie profunde Kenntnisse über die psychoaffektive und psychosexuelle Entwicklung des Kindes wie auch über seine individuellen, zwischenmenschlichen und sozialen Probleme erworben. Dazu kommt die Kompetenz, mit dem Kind mit Takt und Feingefühl zu kommunizieren.