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Eine Frage des Abstandes

Der ideale Altersabstand zwischen ihren Kindern gibt vielen Eltern zu denken. Aber egal, ob er ein, zwei oder fünf Jahre beträgt, jede Entscheidung hat Vor- und Nachteile.

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Nach der Geburt des ersten Kindes wünschen sich die meisten Eltern früher oder später ein weiteres Kind oder sogar mehrere. Dabei stellt sich oft die Frage, was besser für die ganze Familie und insbesondere für die Beziehung der Geschwister untereinander ist, früher oder später? Um es gleich vorwegzunehmen: Es gibt keine allgemein gültige Antwort, die für jedes Elternpaar stimmt. Aber es gibt einige Überlegungen zu erwägen, die den Entscheid in die eine oder andere Richtung lenken können. Ganz klar ist, dass ein zusätzliches Kind die Situation und Dynamik der Familie weiter verändert. Plötzlich steht den zwei Erwachsenen nicht nur ein kleines Lebewesen gegenüber, das die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht, sondern zwei. Zwei kleine Kinder, die unterschiedliche Bedürfnisse haben und die um die Gunst der Eltern buhlen. Das Erstgeborene muss seine Rolle als kleiner Prinz oder kleine Prinzessin abgeben, das Zweitgeborene wird nie so viel ungeteilte Aufmerksamkeit erhalten wie das Erstgeborene – und die Eltern sind doppelt gefordert.

Enge Bindung

Bei einem Altersabstand von ein bis zwei Jahren zwischen den Geschwistern wachsen die Kinder eng miteinander auf. Das ältere Kind wird sich später nicht an die Zeit erinnern können, in der es ein Einzelkind war. Das jüngere Geschwister war seit seiner frühesten Erinnerung schon immer dabei, was zu einer besonders intensiven emotionalen Bindung zwischen den Kindern führen kann. Durch den geringen Altersabstand sind sich solche Geschwister oft gute Spielkameraden, wenn sich ihre Interessen decken. Für die Eltern bringt es den Vorteil, dass sie gewisse Erziehungsphasen nur einmal, wenn auch vielleicht in einer etwas längeren Form, durchmachen statt zweimal separat. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass solche Geschwister mehr oder weniger gleichzeitig aus dem Gröberen kommen – aber andererseits mehr oder weniger gleichzeitig anspruchsvollere Phasen wie das Trotzalter oder die Pubertät durchmachen. Wenn beide Eltern berufstätig sind, bringt ein kleiner Altersabstand auch organisatorische Vorteile: Beide Kinder können gemeinsam in die gleiche Krippe gebracht werden. Später kommen beide Kinder kurz hintereinander in den Kindergarten, die Schule und den Hort, was den Eltern eine grössere -erufliche Bewegungsfreiheit erlaubt. Eltern von solchen Kindern tendieren oft dazu, beide Kinder so zu behandeln, als wären sie gleich alt, was in manchen Situationen das jüngere über und in anderen Situationen das ältere unterfordern kann. Ein weiteres Argument, das oft gegen einen kleinen Altersabstand aufgeführt wird, ist, dass solche Kinder zu einem ausgeprägten Konkurrenzverhältnis tendieren. Das ältere Kind ist nicht einfach fraglos das grössere und überlegenere. Ziemlich dicht auf den Fersen kommt schon das nächste Kind, das es je nach Körperbau, Begabungen oder Temperament herausfordern oder sogar überflügeln kann. Andererseits kann das jüngere Kind in einer solchen Konstellation weniger von seinem Nesthäkchen-Bonus profitieren.

Mehr Kinder, mehr Arbeit!

Mehrere Kinder in einem kurzen Abstand zu haben, bringt für die Eltern mit Sicherheit viel Arbeit und manchmal auch Stress mit sich. Es gilt eine Zeit lang zwei Kinder zu füttern, zwei zu wickeln, zwei ganz genau zu überwachen – und vielleicht hat man zwei Kinder, die nachts noch nicht durchschlafen können. Das kann bei manchen Eltern zu Übermüdung, ja sogar zu Überforderung führen.

Die Entthronung

Ein mittlerer Altersabstand von zwei bis vier Jahren, bietet den Vorteil, dass die Rollenverteilung etwas klarer ist. „Ich bin die Grosse, du bist der Kleine“, das Konkurrenzverhalten etwas weniger ausgeprägt sein kann und die Kinder mehr voneinander profitieren können. Das ältere Kind kann dem jüngeren etwas zeigen oder beibringen; das jüngere Kind bewundert in der Regel sein älteres Geschwister. Oft übernimmt ein älteres Kind Verantwortung für sein jüngeres Geschwister. Die Eltern erfahren etwas Entlastung, wenn ein Kind entwicklungsmässig schon einen Schritt weiter ist als das andere und beispielsweise nicht auch noch gefüttert, gewickelt oder immer an der Hand geführt werden muss. Bei dieser Konstellation verspürt das ältere Kind stärker, dass es vom jüngeren „entthront“ wird, was zu Eifersucht führen und die Beziehung der beiden Kinder ­untereinander negativ beeinflussen kann. Manchmal regrediert das ältere Geschwister und braucht beispielsweise wieder Windeln, obwohl es eigentlich schon aufs Töpfchen könnte. Geschwister mit einem Altersabstand von zwei bis vier Jahren sind füreinander keine gleichwertigen Spielkameraden. Das ältere Kind hat kein Verständnis dafür, dass das kleinere beispielsweise seine Duplo- oder Legokonstruktionen zerstört und reagiert seine Wut nicht selten mit Handgreiflichkeiten gegen das jüngere Geschwister ab. Beide Kinder werden ihren eigenen Freundeskreis brauchen, und das ältere Kind sollte von den Eltern nicht immer nur zum Spielen mit seinem jüngeren Geschwister aufgefordert werden, sonst sind Lange- weile, Frust und Streit vorprogrammiert.

Beschützerinstinkte

Entscheiden sich die Eltern für einen Geschwisterabstand von mehr als vier Jahren oder ergibt es sich nicht anders, so ist in der Regel davon auszugehen, dass die Geschwister eine etwas distanziertere Beziehung zueinander haben werden, wobei es natürlich immer wieder Ausnahmen gibt. Gemeinsame Erlebnisse in der Familie werden sie, beeinflusst durch den unterschiedlichen Entwicklungsstand, verschieden in Erinnerung behalten. Je älter ein Kind ist, desto mehr erfährt es die Ankunft eines weiteren Geschwisters als Einschnitt in sein eigenes Leben. Desto mehr realisiert es auch, dass die Aufmerksamkeit der Eltern nun geteilt werden muss, und zwar nicht zur Hälfte, da ein Baby viel stärker umsorgt werden muss als beispielsweise ein sechsjähriges Kind. Manche Kinder entwickeln in dieser Situation sehr starke Beschützerinstinkte gegenüber ihrem kleinen Bruder oder ihrer kleinen Schwester, andere wiederum wollen nichts mit dem Baby zu tun haben und zeigen ihre Eifersucht offen, was auch für die Eltern nicht nur enttäuschend, sondern auch eine Herausforderung ist. Für die Eltern streckt sich bei dieser Konstellation die Zeit der aktiven Erziehung in die Länge. Das kann viele Aspekte beeinflussen und reicht von der gemeinsamen Freizeitgestaltung als Familie bis zur Berufstätigkeit der Eltern. Dafür sind solche Eltern oft gelassener und es gelingt ihnen, die „zweite“ Babyphase intensiver und bewusster geniessen. Fest steht, dass sich bei keiner Alterskonstellation Streit oder Eifersucht unter Geschwistern völlig ausschliessen lässt. Viele Faktoren ausser demjenigen des Altersabstandes können Auswirkungen auf die Beziehung zwischen den Geschwistern haben: Mindestens genauso wichtig ist das Geschlecht der Kinder, ihre charakterlichen Eigenschaften, ihre Neigungen und Vorlieben. All diese Aspekte lassen sich von den Eltern nicht beeinflussen. Die Entscheidung der Eltern ist oft weniger vom Kopf als vom Gefühl geleitet.

Buchtipps für Eltern!

„Ich mag dich – du nervst mich! – Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben“, von Jürg Frick, Hans Huber Verlag, Fr. 43.90   „Mein Geschwisterchen – wenn das zweite Kind kommt“, von Jeanette Stark-Städele, Kreuz Verlag, Fr. 21.90  „Wie Geschwister Freunde werden“, herausgegeben von Monika Schloss, Oberstebrink Verlag, Fr. 34.90

„Geschwisterrivalität ist normal“

Interview mit Prof. Dr. Jürg Frick, Psychologe, Buchautor und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich.

swissfamily: Ist Rivalität unter Geschwistern normal? Wenn ja, warum tun sich so viele Eltern schwer damit?

Prof. Dr. Jürg Frick: Ja, Geschwisterrivalität ist normal, allerdings kann sie sich in unterschiedlicher Intensität zeigen. Es gibt viele Gründe, warum es Eltern schwerfallen kann, das zu akzeptieren: Es kann sein, dass es ihrer Vorstellung einer heilen Familie widerspricht. Streit bedeutet immer auch eine Herausforderung und die Eltern sind gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen und zu reagieren. Dabei werden sie mit ihren eigenen Erfahrungen konfrontiert.

Wie kann sich Eifersucht unter Geschwistern zeigen?

Sie kann sich auf vielfältige Weise zeigen, sei es mit Streit, Aggression, verbalen Attacken, Grollen, Schmollen, Weinen, aber auch mit Distanzierung, Rückzug oder psychosomatischen Symptomen wie Kopfschmerzen oder Bauchweh. Es kommt auch vor, dass das jüngere Geschwister das grössere nachahmt oder umgekehrt, dass das ältere Kind regrediert und beispielsweise plötzlich wieder in die Hosen macht oder sich stark an die Mutter klammert.

Was können Eltern gegen diese Gefühle der Eifersucht unternehmen?

Eltern sollten versuchen, kein Kind zu bevorzugen und die Kinder nicht untereinander zu vergleichen, um die Rivalität nicht noch stärker anzuheizen. Stattdessen sollten sie ihre Kinder in ihren individuellen Fähigkeiten bestärken. Bei Streit zwischen den Kindern sollten sie nicht sofort intervenieren. Erst wenn er heftiger wird, sollten sie als Klärungshelfer vermitteln und die Kinder dazu anregen, selber Lösungen für das Problem vorzuschlagen. Auseinandersetzungen auf mittlerem Intensitätsniveau zwischen Geschwistern werden Eltern allerdings als normal akzeptieren müssen.

Gibt es Ihrer Meinung nach den idealen Abstand zwischen Geschwistern?

Nein, wichtiger als der vermeintlich ideale Altersabstand sind die Lebens-umstände des Elternpaares. Und, egal wie die Geschwisterreihe aussieht, bedeutet Geschwister zu haben immer eine Entwicklungsaufgabe für alle involvierten Kinder. Vieles hängt von der Haltung der Eltern ab und wie sie diese dem grösseren Kind vermitteln.