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Mut zur Zärtlichkeit

Sabrina sitzt mit ihrem fünfjährigen Sohn im Tram. Er erzählt und plaudert, was er draussen alles sieht. Unvermittelt wirft er sich der Mutter auf den Schoss, umarmt sie stürmisch und küsst sie mehrmals schmatzend auf die Wange. Die Mutter, berührt von dieser Liebesbezeugung, erwidert die Umarmung und küsst ihn auch.

Bild: © fizkes/shutterstock.com

Plötzlich nimmt sie missbilligende Blicke wahr. Schlagartig ist alles Innige weg. Was bleibt ist Unsicherheit. «Darf ich mit meinen Kindern auch in der Öffentlichkeit zärtlich sein, oder ist das etwas, was hinter die vier Wände gehört?», fragt sie sich. In ihrer Unsicherheit spricht sie den Kinderarzt darauf an. Und zu ihrem Erstaunen begegnet ihr die gleiche Unsicherheit. Der Arzt gesteht ihr, dass ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf gehen, wenn er mit seiner Tochter in der Öffentlichkeit unterwegs ist.

Ein anderes Beispiel ist Jerôme: Ein wunderschöner Sonntagnachmittag, Jerôme hat sich seine gut einjährige Tochter im Tragtuch umgebunden und schlendert mit ihr den See entlang. Weinen und ein eindeutiges Gerüchlein weisen bald einmal auf eine volle Windel hin. Der Vater legt seine kleine Tochter auf den Rasen unter einen Baum und macht sich daran, sie mit Feuchttüchern zu reinigen und die Windel zu wechseln. Dabei knuddelt und kitzelt er sie so wie immer beim Windelwechsel. Ein älteres Paar bleibt stehen, beobachtet den Vater argwöhnisch und droht damit, die Polizei zu benachrichtigen. Jerôme versteht die Welt nicht mehr. Aber eine leichte Unsicherheit bleibt, und er fragt sich: «Darf ich beim Wickeln die Scheide meiner Tochter berühren, oder ist das eine Art Übergriff?».

Die Unsicherheit vieler Eltern, bis wohin Zärtlichkeit gehen kann und wo eventuell ein sexueller Übergriff beginnt, hat damit zu tun, dass Erwachsene Berührung generell oft mit etwas Sexuellem gleichsetzen. Das muss unbedingt entflechtet werden. Es geht darum, Berührungen zu differenzieren. Zum Glück gibt es ja nicht nur sexuelle Berührun-gen, sondern Berührungen ganz einfach aus Freude und Liebe, oder Berührungen ganz einfach für die notwendige Körperpflege. Nichts mehr und nichts weniger. Eltern sollten sich von schrägen Blicken und Bemerkungen nicht entmutigen lassen und ihren Kindern so viel Zärtlichkeit und Berührung wie möglich geben. Das schafft Nähe, Vertrauen, Geborgenheit und Sicherheit. Die Achtsamkeit und Sensibilisierung fürs Thema Übergriffe führt dazu, dass gerade Väter ihre Söhne und Töchter kaum mehr zärtlich umarmen. Somit fehlen immer mehr Vorbilder, und das Zärtliche wird zunehmend zur Frauensache oder hinter die vier Wände verbannt. Mütter und Väter dürfen und können lernen, wieder wie ein Kind voller Freude mit ihren Kindern herumzutollen und zu schmusen. Auch in der Öffentlichkeit. Und zwar auch über das Baby- und Kleinkinder-alter hinaus.

Verunsicherte Eltern können in der Regel darauf vertrauen, dass ihr Umgang mit dem Kind gut ist, und dass sie merken, was Berührungen bei ihnen selbst allenfalls auslösen. Ein Kind zu berühren, kann Eltern durchaus sexuell erregen. Diese Reaktion allein ist noch kein Übergriff, aber es ist wichtig, sie sich einzugestehen und zu benennen. Das trägt dazu bei, die Grenze zu wahren. Übergriffe können im Frühstadium gestoppt werden, wenn Eltern ihre Bereitschaft signalisieren, miteinander über das Thema zu reden. Sie können einander beispielsweise fragen: «Erregt es dich, wenn du mit unserer Tochter badest?» Oder: «Hast du sexuelle Empfindungen, wenn unser Sohn mit dir herum schmust?» Auf diese Weise zeigen Mann und Frau ihre Bereitschaft und Offenheit, über dieses heikle Thema zu reden.

Aber auch mit Kindern darf offen geredet werden. Carola greift im Badezimmer nach Papis Penis und will ihn neugierig untersuchen. Ihm ist nicht wohl dabei, denn er befürchtet, dass die Berührung eine Erektion auslösen könnte. Der Vater kann darauf reagieren, indem er sagt: «Mich erregt es, wenn du meinen Penis berührst. Ich möchte das aber nicht mit dir teilen. Bitte hör auf.» Damit signalisiert er einerseits, dass es grundsätzlich in Ordnung ist, einen Penis zu berühren und setzt andererseits die Grenze, die seine Rolle als Vater verlangt. Wenn Eltern ihre Grenzen klar setzen, lernen auch Kinder ihre Grenzen zu setzen. «Ich möchte nicht, dass du das mit mir tust», ist ein wichtiger Satz in diesem Zusammenhang.

Die eigenen Grenzen zu wahren, heisst auch Hemmungen wahrzunehmen und zu achten. Es bringt nichts, sie ausser Acht zu lassen, und etwas zu forcieren, was nicht ist. Denn ein Kind nimmt das als verwirrende Doppelbotschaft wahr. Die Grossmutter hütet ihre vierjährige Enkelin Anais. Beim z’Vieri fragt Anais plötzlich: «Oma, hast du auch eine Scheide?». Überrumpelt bejaht die Grossmutter. Als Anais fragt, ob sie sie einmal sehen dürfe, ist die Grossmutter unangenehm berührt, und es ist ihr peinlich. Gleichzeitig überlegt sie, ob man das heute tun müsste, weil ja so vieles anders ist in der Erziehung. Aber sie sagt dann einfach, nein, das könne sie nicht, und wechselt ausdrücklich das Thema, als die Enkelin weiter fragen möchte. Später erzählt sie es ihrer Tochter, und fragt, wie sie denn hätte reagieren sollen. Die Tochter findet, sie hätte vielleicht erzählen können, wie es früher war. Dass man früher nicht über den Körper oder die Geschlechtsorgane reden durfte, und dass sie es eben darum heute auch noch nicht so gut könne und es sie verlegen mache. Damit hätte die Grossmutter einerseits ihre eigene Grenze gewahrt und gleichzeitig der Enkelin auch gezeigt, dass es schon in Ordnung ist, neugierig zu sein auf alles Körperliche.

Kinder müssen also von klein auf lernen, die Grenzen der Erwachsenen zu achten, damit sie auch ihre eigenen Grenzen setzen können. Das heisst denn auch, dass Erwachsene die von den Kindern gesetzten Grenzen auch respektieren. Es gibt beispielsweise Phasen, wo ein Abschieds- oder Begrüssungskuss in der Öffentlichkeit gar nicht mehr erwünscht ist. Das heisst aber noch lange nicht, dass keine elterliche Zärtlichkeit mehr gefragt ist. Aber es kann heissen, dass sie das momentan nur noch zu Hause leben möchten. Es gibt Phasen, wo Nacktheit für Kinder nicht mehr selbstverständlich ist. Das gilt es zu respektieren. Oder das kann auch heissen, dass ein Kind Verwandte und Bekannte weder küssen noch umarmen muss, wenn es dabei ein Unbehagen verspürt. Dabei sollten sie die Rückendeckung der Eltern haben, ohne lange erklären zu müssen. Denn was nützt es, Grenzen zu setzen, wenn sie nicht respektiert werden?

Sexuelle Übergriffe werden eher den Männern zugeordnet. Aber es gibt auch «Frauenfallen». Diese Übergriffe laufen oft subtiler und sind deshalb nicht auf Anhieb als solche zu erkennen. Es ist beispielsweise zu beobachten, dass Mütter gegenüber ihren Söhnen ihren Sexappeal hervorkehren. Das ist absolut der falsche Ort. Das ist eine Rollenvermischung, welcher der Sohn hilflos gegenüber steht und die ihn zutiefst verwirren kann.

Eine andere Rollenvermischung ist zwischen Mutter und Tochter zu beobachten: Mütter nehmen oft die Rolle der «besten Freundin» ein und verbauen damit die Möglichkeit, dass die Tochter gleichberechtigte Freundschaften pflegt. Sie vergeben sich damit aber auch die Chance von Mutter-/Tochter-Gesprächen. Indem Mütter sich wie eine Freundin verhalten, treten sie auch in Konkurrenz mit ihrer Tochter. Das ist absolut nicht angebracht. Oft werten Mütter ihre Töchter ab, indem sie deren Körper kontrollieren. Das heisst, Bemerkungen über ihre Figur oder ihren Appetit machen, auch gegenüber Dritten im Beisein der Tochter. Das ist ein Übergriff auf die körperliche Integrität. Damit können sie ihre Töchter tief verunsichern und sie nachhaltig verletzen.

Im Zusammenhang mit Zärtlichkeit und Grenzen in der Familie ist es ganz zentral, dass sich Mütter und Väter ihrer Rolle als Eltern stets sehr bewusst sind. (Das gilt natürlich auch für alle anderen Erwachsenen, die mit Kindern zu tun haben.) Dann steht eigentlich nichts mehr im Wege, um mit Kindern so richtig liebevoll, unbeschwert wild, und von Herzen zärtlich sein zu können.

Möglichkeiten spielerischer Berührungen und körperlicher Nähe im Alltag
  • Babymassage
  • Körpermassage auch über das Babyalter hinaus
  • Hand- und Fussmassagen
  • Spürspiele
  • Sinneswahrnehmungen
  • Kuscheln beim Geschichten erzählen
  • Kuscheln vor dem Fernseher
  • Liebevolles Guten-Tag oder Gute-Nacht-Ritual
  • Balgen
  • Herumtollen
  • Sport
Wichtige Ansätze
  • Gegenseitigkeit: Erwachsene respektieren die von den Kindern gesetzten Grenzen.
  • Berührungen: Erwachsene setzen Berührung oft mit etwas Sexuellem gleich. Es geht darum, Berührungen zu differenzieren.
  • Vertrauen: Verunsicherte Eltern können in der Regel darauf vertrauen, dass ihr Umgang mit dem Kind gut ist.
  • Frühstadium: Übergriffe können im Frühstadium gestoppt werden, wenn Eltern ihre Bereitschaft signalisieren, miteinander über das Thema zu reden.
  • Rolle: Wenn sich Mütter und Väter ihrer Rolle als Eltern stets sehr bewusst sind, steht einem zärtlichen Umgang mit den Kindern nichts im Wege.
  • Grenzen: Wenn Eltern ihre Grenzen klar setzen, lernen auch Kinder ihre Grenzen zu setzen. «Ich möchte nicht, dass du das mit mir tust».